Zehn Jahre Unglück von Überlingen:Dima hebt ab

Die Leiche seiner Mutter fanden sie in einem Getreidefeld. Olga Bagina war an Bord eines der Flugzeuge, die am 1. Juli 2002 über dem Bodensee kollidierten. Für ihren zwölfjährigen Sohn Dima beginnt in Überlingen ein neues Leben, er wächst dort in der Familie eines Polizisten auf. Heute arbeitet er als Flugzeugmechaniker.

Roman Deininger, Überlingen

Dmitry Bagin, genannt Dima, ist kein Mann vieler Worte. Es sei denn, es geht um Flugzeuge. Dann startet er durch. "Dieser geniale Aufbau, alles ist durchdacht." Jede Schraube, jede Niete. Und der Bordcomputer: "Wie schlau so ein Flieger ist. Doppelt und dreifach gesichert." Im Grunde könne da nichts passieren, "überhaupt nichts". Außer natürlich jemand mache einen Fehler - jemand, der nicht ganz so schlau ist wie der Flieger selbst. Dima sitzt am Münchner Flughafen im Biergarten zwischen den Terminals und sagt: "Am Ende ist es doch überall der Mensch."

Muenchen: Ueberlingen-Opfer Dima Bagin am Muenchner Flughafen

Dima Bagin am Münchner Flughafen. Seine Mutter starb beim Flugzeugunglück von Überlingen. Er selbst ist heute Fluggerätemechaniker.

(Foto: Johannes Simon)

Dima, 22, lernt Fluggerätemechaniker bei der Lufthansa: Schrauben, Nieten, Bordcomputer. Und der "human factor". Seine Kollegen kennen den Begriff nur aus Büchern. Er kennt ihn ein wenig näher. Der menschliche Faktor hat Dima sein altes Leben geraubt, es war der 1. Juli 2002, 23.35 Uhr und 32 Sekunden, 11.500 Meter über dem Bodensee. Diesen Sonntag ist es zehn Jahre her, doch die Menschen am See können es immer noch nicht fassen. Sie sagen: "So ein großer Himmel, und kein Platz für zwei so kleine Flugzeuge." Dima sagt: "Man kann alles erklären, was da passiert ist."

Skyguide-Kontrollzentrum, Flughafen Zürich: Ein kaputtes Telefon, ein abgeschaltetes Warnlicht. Zwei Radarschirme, zwei Funkfrequenzen. Aber nur ein einziger armer Lotse. Und zwei leuchtende Punkte, die sich aufeinander zubewegen: eine Tupolew der Bashkirian Airlines, eine Boeing-Frachtmaschine der DHL. Der Bordcomputer der Boeing befiehlt automatisch: Sinken. Der Bordcomputer der Tupolew befiehlt: Steigen. Der Lotse weiß davon nichts, als er die Gefahr erkennt. Sinken, rät er der Tupolew. Der Pilot hört auf den Menschen. "Shit", entfährt es dem Lotsen, als die zwei Punkte vom Monitor verschwinden.

11.546 Flugstunden als Stewardess hat Olga Bagina für Bashkirian Air gesammelt, über dem Bodensee endet jäh die letzte. Zuhause in Russland, in der kargen Wohnung in Ufa, klingelt morgens das Telefon. Dima ist zwölf, er will nicht glauben, dass er seine Mutter verloren hat. Dass er alles verloren hat, er hat ja sonst niemand. Heute darf man sagen, dass genau in diesem furchtbaren Moment eine ganz andere Art des menschlichen Faktors schon damit begann, Dima ein neues Leben zu schenken.

Dostojewski im Kuridyll

Das Ehepaar Martin erzählt die Geschichte jener Nacht auf der Uferpromenade von Überlingen, einem sonnigen Kuridyll, das seither einer Katastrophe den Namen leihen muss. Dorothea Martin sagt, dass sie nicht gleich von Schicksal reden wolle. Aber von was eigentlich sonst? Mit Russland, erzählt sie, habe sie nie was am Hut gehabt, sie habe einfach nur Dostojewski geliebt, als sie jung war. Ihren beiden Söhnen hat sie deshalb russische Namen gegeben: Aljoscha Mitja und David Ivan. "Kurios, nicht wahr?"

Am 1. Juli vor zehn Jahren sind die Martins gerade ins Bett gegangen, als sie ein Donnergrollen wieder hochfahren lässt. Aus dem Fenster sehen sie Feuer vom Himmel regnen. Sie wissen nicht, dass da brennende Wrackteile elf Kilometer zu Boden fallen. Sie wissen nur, dass ihnen der See noch nie so unheimlich war. Reinhard Martin denkt erst an eine Bundeswehr-Übung, seine Frau irgendwie an New York und den 11. September. So falsch, sagt sie heute, sei das ja nicht gewesen: Der 1. Juli bleibt für immer der Tag, an dem der Tod nach Überlingen kam. Noch vor Mitternacht setzt sich Reinhard Martin ins Auto, eine Ahnung, er ist Polizist. Für ihn ist jetzt Einsatz.

Ein guter Junge namens Dima Bagin

Über dreißig Kilometer verstreut gehen die Trümmer nieder, und die Leichen. 71 Menschen sterben, keiner an Bord der Maschinen überlebt. 45 Kinder sind unter den Toten, sie waren auf dem Weg in den Badeurlaub an der Costa Dorada. Fast wundersam kommt niemand am Boden zu Schaden: Um 200 Meter verfehlen Wrackteile ein Kinderheim. Am nächsten Morgen gehört Reinhard Martin zu den Bergetrupps, die Wiesen, Wälder und Weiler durchstreifen. Eine kohlende Tragfläche ragt aus einem Garten, ein Opfer hängt in einem Baugerüst. Koffer liegen unter einem Apfelbaum. Und in einem Getreidefeld liegt Olga Bagina.

Die Polizisten fotografieren den Leichnam, protokollieren, was sie sehen. Reinhard Martin will das zehn Jahre später nicht wiedergeben. Er sagt nur, dass ihm Olga Bagina in Erinnerung blieb, weil sie eine Stewardessen-Uniform trug. Nahe der Stelle, an der Dimas Mutter vom Himmel fiel, windet sich heute eine riesenhafte zerrissene Perlenkette durchs Gras, zur Erinnerung an die Toten. Die mächtigen Edelstahlkugeln wirken, als würden sie der Stadt entgegen rollen, dem schimmernden See und den Alpengipfeln in der Ferne. Am ersten Jahrestag der Katastrophe kehrt Reinhard Martin an diesen grausam schönen Ort zurück, die Polizei begleitet die Angehörigen. Sie stehen am Feldrand und weinen, nur ein Junge starrt still ins Leere. Seine Tante spricht Martin an. Sie könne ihrem Neffen in Russland keine gute Zukunft bieten, er müsse wohl auf die Militärakademie. Ob es da keine andere Möglichkeit gebe? Eine Pflegefamilie? Er sei ein guter Junge und sein Name sei Dima Bagin.

Zuhause erzählt Martin von dem schlimmen Gefühl, wenn man helfen will, aber nicht helfen kann. Die Söhne mit den russischen Namen fragen ihre Eltern, was sie denn bitte vom Helfen abhalten sollte. Ein paar Monate später haben sie einen neuen Bruder. Bei den Martins wird von da an mit Händen und Füßen geredet; ab und zu kommt eine russische Freundin zum Übersetzen vorbei. Eine Spendenaktion ermöglicht Dima den Besuch des privaten Salem College - dort wundert er sich erst mal, wie locker es im Vergleich zu Russland zugeht: "Keine Disziplin in Deutschland!" Nach nur einem Jahr Intensiv-Unterricht kann er 2004 auf die normale Realschule wechseln. "Er hat das Lachen und das Reden schnell gelernt", sagt Dorothea Martin. Und als das dann geschafft ist, will er noch etwas anderes lernen: das Fliegen.

Kindheit im Cockpit

Seine Mutter habe ihn schon als Kind mit "zur Arbeit" genommen, sagt Dima, immer durfte er im Cockpit sitzen: "Sogar als ich noch zu klein war, um vorn rauszuschauen." Am Bodensee fängt er mit Segelfliegen an, dann macht er neben seiner Lehre auch noch den Pilotenschein. Er bezahlt ihn von der Entschädigung, die er nach dem Tod der Mutter bekommen hat. Bald will er Jets fliegen, über den Wolken bei Sonnenuntergang, er erzählt das ganz lässig. Wenn die Martins das erzählen, glucksen sie vor Glück.

Für andere Betroffene der Katastrophe, sagt Reinhard Martin, höre das Leid nie auf. Den 71 Todesopfern vom 1. Juli 2002 folgt ein weiteres am 24. Februar 2004: Der Unglückslotse aus dem Zürcher Tower - selbst ein Opfer der empörenden Fehler im System von Skyguide - wird von Witalij Kalojew erstochen, einem verbitterten Vater, der über dem Bodensee seine Frau und beide Kinder verloren hat. Die Frau des Lotsen verliert ihren Mann, zwei Kinder ihren Vater. Kalojew kehrt nach verbüßter Haftstrafe als Held heim nach Russland, in Nordossetien wird er Vize-Bauminister. Jeder Mensch in seiner Lage, hat er gerade einer Zeitung gesagt, habe das Recht, "die Gerechtigkeit in seine eigenen Hände zu nehmen". Die Last, die ihn niederdrückte, sei ihm durch den Mord aber auch "nicht leichter" geworden.

Im Biergarten sagt Dima Bagin, er liebe so viel am Fliegen. Aber ganz besonders "den Moment, in dem man abhebt".

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