Wunschwetter in Moskau:Möglichst eisig, bitte!

People are silhouetted as they wait at a public transport stop on a frosty winter day in Moscow

An einem typisch frostigen Wintertag warten Pendler in Moskau auf den Bus.

(Foto: REUTERS)
  • Während die "Russen-Kälte" in Deutschland für Wetteralarm sorgt, wünschen sich viele Russen kalte Temperaturen im Winter.
  • Konstante Minusgrade werden dort als besser für die Natur, für die physische und psychische Gesundheit angesehen.

Von Paul Katzenberger, Moskau

Der März steht vor der Tür, doch da stellt sich in Deutschland jäh eine Wetterlage ein, die allen Hoffnungen widerspricht, die die wintergeplagten Bürger mit dem Start des meteorologischen Frühlingsanfangs verbinden: "Von wegen warmer März: Jetzt kommt die Russen-Kälte!" kündigte Bild.de bereits vergangene Woche an. Denn direkt aus Russland schlage die russische Kälte-Peitsche in Mitteleuropa zu, heißt es in der Vorwarnung: mit Temperaturen von bis zu minus 20 Grad.

Und nun hat sie sich tatsächlich in Mitteleuropa breit gemacht, die je nach Diktion "klirrende", "sibirische" oder "Mega-Kälte", die in Mitteleuropa durch den Klimawandel doch eigentlich schon abgeschafft zu sein schien.

Es werden fetthaltige Cremes zur Hautpflege empfohlen, am besten mit Vitamin E und Aloe Vera, es wird von Sport abgeraten und Menschen aus Lappland werden befragt, wie man sich denn nun am besten warm hält bei den eisigen Temperaturen.

Wer den Umgang mit Frost dort beobachtet, wo die "Russen-Kälte" herkommt, fragt sich allerdings, ob es nicht auch eine Nummer kleiner geht. In Moskau etwa sind minus zehn Grad im Winter der Normalzustand, wobei Russen rein physisch keine größere Kälteresistenz aufweisen dürften als Mitteleuropäer. Und doch sind selbst Temperaturen von bis zu minus 20 Grad für die Moskauer kaum der Rede wert: Man setzt sich die typische Pelz-Uschanka (Mütze mit herunterklappbarem Ohrenschutz) oder eine Woll-Kappe auf, zieht sich Handschuhe an, und die Sache hat sich erledigt. Da die nächste Metrostation meist nicht weit weg ist, ist der Gang durch die Kälte in aller Regel auch nicht allzu lang.

Viel mehr als die Eiseskälte irritieren die Moskowiter zu milde Wintertemperaturen, die nun wegen des Klimawandels auch in Russlands Hauptstadt zur Regel geworden sind - und die daraus folgenden Wetterschwankungen.

Mild und unbeständig

Besonders in diesem Winter schlug das Moskauer Wetter Kapriolen: Im Dezember war es mit Temperaturen nur unwesentlich unter dem Gefrierpunkt und bisweilen einstelligen Plusgraden zunächst wochenlang viel zu warm für die Jahreszeit, doch dann zog Anfang Februar der schwerste Schneesturm seit 100 Jahren über die Stadt hinweg.

Dem Rentner Matwej Koroljow missfallen die neuerdings milden Winter und ihr Unbeständigkeit: "Früher war es ganz einfach: Da fielen die Temperaturen im Dezember, Januar und Februar konstant deutlich unter null Grad, es gab jede Menge Schnee, und im März fing es an zu tauen. Inzwischen gibt es Winter fast ohne Schnee, es regnet im Dezember und plötzlich schneit es im April. Für die Natur ist das nicht gut, die Pflanzen nehmen Schaden und die Tiere wissen gar nicht mehr, welche Jahreszeit wir gerade haben."

Gefahr für die physische und psychische Gesundheit

Auch wenn in Koroljows Aussage Sentimentalität mitschwingt, gibt es handfeste Gründe dafür, warum sich viele Moskauer die beständig kalten Winter der Vergangenheit zurückwünschen. In manchen Fällen geht es dabei sogar buchstäblich um Leben und Tod. Denn hohe Temperaturunterschiede gehen stets mit starken Schwankungen des Luftdrucks einher und diese setzen Menschen mit Kreislauferkrankungen zu. Wenn der Thermometerstand im Moskauer Winter jederzeit von heute null auf morgen minus zehn Grad sinkt oder umgekehrt, bedeutet das für Herzschwache und Schlaganfall-Gefährdete eine erhebliche Belastung, wie Mediziner warnen.

Hinzu kommt, dass zu milde Temperaturen im Winter auch die psychische Gesundheit beeinträchtigen können. Denn warmes Winterwetter wird oft von thermischen Tiefdruckgebieten hervorgerufen, das heißt: Warme Luft bildet eine Glocke über etwas kälterer Luft am Boden - was dann oft bedeutet, dass die Sonne kaum durchkommt. Jeder Berliner kennt das vom Winter, und bevor die jetzige Kältewelle nach Mitteleuropa rollte, war auch Deutschland im Griff dieses Schmuddelwetters.

Doch das war kein Vergleich zu dem Lichtmangel, den das wärmespendende Tiefdruckgebiet des vergangenen Dezembers in Moskau hervorrief: Den ganzen Monat lang gab es insgesamt nur sechs Minuten direktes Sonnenlicht - ein Allzeit-Minusrekord. Der Dezember markiert mit seinen rasch kürzer werdenden Tagen zwar immer die dunkelste Zeit des Jahres in ganz Russland. Doch ein kompletter Monat praktisch ohne Sonnenlicht! Das war selbst für die Moskauer eine traumatisierende Erfahrung. Immerhin scheint die Sonne normalerweise im Dezember durchschnittlich insgesamt knapp zwanzig Stunden. Als es dann im Januar kälter wurde, gab es sofort jede Menge Sonnentage - und alle waren glücklich.

Noch aus einem weiteren Grund missfällt den Moskauern zu warmes Wetter im Winter: Es verlängert die Zeitspanne, in der Dreck und Matsch das Straßenbild dominieren. Als die Winter noch kälter waren, herrschte dieses Problem vor allem im Tau-Monat März vor. Inzwischen ist der Matsch zu einem sporadischen Begleiter des gesamten Moskauer Winters geworden, was sich hier gravierender auswirkt, als anderswo. Denn der hiesige Tiefbau zeigte sich bislang nicht in der Lage, Gehsteige und Straßen flächendeckend so zu konstruieren, dass das Wasser zuverlässig abläuft. Das heißt: Die Moskauer waten bei Tauwetter ständig durch gigantische Pfützen, was nicht dadurch besser wird, dass auch die Regenrinnenkonstruktionen an den Häusern verbesserungswürdig erscheinen. Wer einer Pfütze ausweicht, und dabei zu nah an ein Gebäude kommt, erreicht sein Ziel vielleicht weiterhin trockenen Fußes, doch die Dusche von oben hat möglicherweise das Haupthaar derangiert.

So unterschiedlich kann die Wahrnehmung also sein: Die Moskauer sind ganz zufrieden mit der "Kältepeitsche", von der sich Mitteleuropa nun so gegeißelt fühlt.

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