Süddeutsche Zeitung

Wie ein Lokführer nach einem Zugunfall weiterlebt:Du sollst mich töten

Wenn ein Mensch vor den Zug springt, gibt es immer zwei Opfer. Der Selbstmörder stirbt, der Lokführer behält die Bilder davon im Kopf. Ein Besuch bei einem Mann, der seit fünf Jahren damit leben muss - und noch immer auf der gleichen Strecke fährt wie früher.

Ulla Reinhard

Am 22. Mai 2007 verbrachte Sebastian Wolff (Name geändert) den Abend alleine in seiner Zweizimmerwohnung in Bordesholm. Er hatte sich zwei Filme ausgeliehen und etwas zu knabbern gekauft. In einem Film spielte Leonardo DiCaprio die Hauptrolle. Wolff wollte seine Ruhe haben an diesem Abend. Er sah sich die Filme an. Gegen 23 Uhr ging er schlafen.

Knapp sieben Stunden zuvor, um 16.17 Uhr, hatte er einen Menschen überfahren. Er konnte nichts dafür. Der Mann war ihm vor den Zug gelaufen. Blonde Haare, rundliches Gesicht. Wolff bremste und gab ein Achtungssignal. Aber der Mann blieb stehen, und der Bremsweg war zu lang. Später wurde bekannt, dass er aus einer psychiatrischen Klinik geflohen war.

Wolff sagt, er könne damit umgehen, einen Menschen getötet zu haben. Er sagt es nicht in den Worten, er sagt: "Er hat sich nicht für mich interessiert, ich interessiere mich nicht für ihn." Keine Albträume, keine Ängste, keine Bilder. Wolff spricht von Selbstschutz und von seinem reinen Gewissen. Das reine Gewissen ist ihm wichtig. Er malt einen senkrechten Strich in die Luft, wenn ihm etwas wichtig ist.

Als Lokführer sitzt man zwei Meter über der Erde und sieht durch eine riesige Frontscheibe. Das Gleis ist viel schmaler als eine Straße. Ein Lokführer hat eine gute Sicht, obwohl er nicht auf Sicht, sondern auf Signal fährt. Wie bei der Ampel gibt es grüne und rote Signale. Kein Lokführer kann seine Geschwindigkeit selbst bestimmen, das Tempo wird im Geschwindigkeitsheft und von den Signalen vorgeschrieben.

Die Routine im Führerstand

Fast fünf Jahre sind inzwischen vergangen. Wolff fährt noch die gleiche Strecke wie damals, auch heute. Seine Schicht hat gerade begonnen. Er ist schon angefahren, bremst aber noch mal, weil eine Frau auf den Bahnsteig hastet. Er wartet, bis sie eingestiegen ist. Er sitzt im Führerstand, vor ihm das blaue Armaturenbrett mit Schaltern, Hebeln, Knöpfen und Funkgeräten. Er beschleunigt, indem er einen Hebel nach vorne schiebt; der Außenspiegel klappt nach innen, die Nordbahn 76 verlässt den Bahnhof.

Zwischen Bad Oldesloe und Neumünster sieht es überall gleich aus. Vielleicht liegt das am Winter. Schnee und Nebel haben der Landschaft ein bisschen Unendlichkeit verliehen. Ab und zu taucht ein Parkplatz auf, ein Haus, eine Lagerhalle. Menschen kommen nur auf Bahnhöfen vor oder in orangefarbenen Warnwesten. Dann sind es Arbeiter an Bahnübergängen. Wolff winkt ihnen zu.

Er fährt durch ein weißes Land, vorbei an einem alten Stellwerk, weiter in Richtung Fresenburg und Wakendorf. Dann kommen Altengörs und Bad Segeberg. Dann Fahrenkrug und Wahlstedt. Die Nordbahn pendelt stündlich zwischen Bad Oldesloe und Neumünster, auf dem Weg hält sie an acht Bahnhöfen.

Das weiße Signal blinkte auch damals

Alle paar Sekunden drückt Wolff ein Pedal - eine Sicherheitseinrichtung, falls er einen Schwächeanfall erleidet oder aus einem anderen Grund handlungsunfähig wird. Der Zug würde automatisch anhalten, wenn das Pedal nicht mehr gedrückt wird. Die Fahrt von Bad Oldesloe nach Neumünster dauert 45 Minuten. Anders als seine Kollegen lässt Wolff die Tür zum Führerstand offen. Er mag es, wenn ihn Passagiere ansprechen, weil sie etwas wissen wollen. Sie wünschen ihm fröhliche Weihnachten und einen guten Rutsch.

Kurz hinter Rickling blinkt rechts vom Gleis ein weißes Signal. Es informiert den Lokführer, dass der nächste Bahnübergang gesichert ist: Die Schranke ist unten, Autofahrer und Fußgänger müssen warten. Die Nordbahn hat auf diesem Abschnitt ein Tempo von 80 Kilometern in der Stunde.

Auch damals blinkte hier das weiße Signal. Es war Mai, warm und grün. Der Mann stand links vom Gleis, auf der Straße, unauffällig. Als er auf das Gleis rannte, dachte Wolff, der will nur nicht warten. Lokführer müssen in solchen Situationen eine Schnellbremsung einleiten und das Achtungssignal betätigen - eine Art Hupe, die auch benutzt wird, um Tiere zu verscheuchen. Wolff handelte vorschriftsmäßig. Er zog den Fahrbremshebel bis zum Anschlag nach hinten, und er hupte. Im Führerstand klingt das leise, aber draußen erschrickt man.

Der Mann blieb im Gleisbett stehen. Wolff schlug mit der Faust auf das Armaturenbrett. Sekundenlang. Der Mann stand diagonal zum Zug und hatte die Arme verschränkt, als wolle er etwas abwehren. Wolff fand, er sah verbissen aus. Es gab einen lauten Knall. Nach 235 Metern kam die Nordbahn zum Stehen.

Wolff sagt, er muss nicht daran denken. Er kann daran denken. Aber wenn er nicht will, muss er nicht. Aber er weiß, es könnte jeden Tag wieder passieren.

Nur vier Menschen im Freundeskreis wissen Bescheid

Über Funk sandte er damals einen Notruf ab. Per Durchsage informierte er die Fahrgäste, es habe einen Personenunfall gegeben. Er lief durch den Zug an etwa 30 Reisenden vorbei zum hinteren Führerstand. Er wollte nachschauen, ob der Mann wirklich tot war. Sonst hätte er Erste Hilfe leisten müssen. Im Zug blieb es ruhig. Nur eine Frau versuchte auf Zehenspitzen, Wolff über die Schulter zu gucken. Er zog die Gardine der Fahrertür zu. Sie sollte nicht sehen, was er gesehen hatte. Er ging zurück zum vorderen Führerstand. Er setzte sich an seinen Arbeitsplatz und aß fünf Müsliriegel.

Die Feuerwehr traf ein, kurz darauf die Polizei. Wolff blieb die ganze Zeit im Führerstand sitzen und wartete. Ein Feuerwehrmann bat ihn, nicht loszufahren. Man suche noch ein Bein. Am nächsten Tag ließ sich Wolff für eine Woche krankschreiben. Seinem Arbeitgeber sagte er, es gehe ihm gut. Er machte eine Radtour und fuhr zum Einkaufen nach Kiel. Dann erschien er wieder bei der Arbeit.

Ein Gefühl ist vielleicht doch geblieben. "Wir werden missbraucht", sagt Wolff: "Sie denken nicht daran, dass da vorne jemand drinnen sitzt."

Er hat die Nordbahn in den Bahnhof Neumünster Süd gefahren. Er ist heute sechs Mal zwischen Bad Oldesloe und Neumünster gependelt. Sein Blick ist leer. Er beendet seinen Fahrtbericht, dann hat er Feierabend. Es ist 11.51 Uhr.

Aus Wolffs Freundeskreis wissen nur vier Leute, dass er gezwungen wurde, einen Menschen zu überfahren. Fragt ihn ein Fremder danach, sagt er oft, ihm sei das noch nicht passiert. Er will nicht, dass ihn die Leute anders sehen, wenn sie es wissen. Er sei immer noch derselbe.

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Quelle:
SZ vom 28.12.2011/grc
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