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Wetter:Sorge vor Regen im Ahrtal: "Extreme Katastrophe"

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Bad Neuenahr-Ahrweiler (dpa/lrs) - Eine Woche nach den verheerenden Überschwemmungen mit zahlreichen Toten und Verletzten laufen im Norden von Rheinland-Pfalz die Aufräumarbeiten. In dem von der Hochwasserkatastrophe stark betroffenen Ahrtal blicken die Menschen mit Sorge auf die Wetterprognosen fürs Wochenende. "Viele sind unter dem Eindruck des Ereignisses natürlich jetzt auf hab Acht", sagte der Präsident des rheinland-pfälzischen Landesverbandes des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), Rainer Kaul, in Bad Neuenahr-Ahrweiler.

Dem Deutschen Wetterdienst zufolge werden schauerartiger Regen und Gewitter in Rheinland-Pfalz erwartet. Es könne erneut Starkregen geben, hieß es. "Zunächst hoffen wir mal, dass der Regen nicht so heftig wird", sagte Kaul am Donnerstag. "Aber das ist eine neue Herausforderung, die wir dann meistern müssen."

Von der Flutkatastrophe betroffene Menschen aus dem Kreis Ahrweiler können eine Soforthilfe des Landes beantragen. Dies könne ab sofort online oder schriftlich beim Statistischen Landesamt geschehen, teilte das Amt in Bad Ems mit. Die Landesregierung in Mainz hatte für Betroffene der Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz am Dienstag Soforthilfen bis zu 3500 Euro pro Haushalt beschlossen.

Der rheinland-pfälzische Innenminister Roger Lewentz (SPD) hat bisher keine Hinweise, dass die Warnketten vergangene Woche nicht funktioniert haben. "Es kam alles zusammen, was an ungünstigen Umständen überhaupt zustande kommen konnte, in diesem kleinen Ahrtal", sagte er in Mainz. "Die Situation ist eine solche Ausnahme, die die Bundesrepublik noch nicht erlebt hat." Für solche Situationen sei ein völlig neues Warnsystem notwendig. "Katwarn scheint funktioniert zu haben, solange es Warnungen aussprechen konnte."

Die Notfall-Informations- und Nachrichten-App des Bundes, Nina, aber "war wohl nicht einsatzfähig", warum wisse er nicht. Es habe auch Warnungen über die Medien gegeben. In einigen Orten seien Sirenen zu hören gewesen, der Geräuschpegel des Wassers sei nach Aussage von Feuerwehrleuten aber so hoch gewesen, dass diese wohl nicht überall wahrgenommen worden seien. "Wir alle denken, wenn die Sirene geht, wird die Feuerwehr alarmiert." Das System stamme aus der Zeit der "einfachen Fensterverglasung" und müsse angepasst werden.

Nach der Katastrophe werden in Rheinland-Pfalz weiterhin 155 Menschen vermisst. "Eine Woche nach einem solchen Ereignis nehmen die Chancen, dass Vermisste noch leben können, ab", sagte Lewentz. Von den 128 Toten seien bisher 62 identifiziert. Zu den Toten und Vermissten kämen 766 Verletzte in Rheinland-Pfalz. Viele sind traumatisiert. Das DRK sei mit Kriseninterventionskräften unterwegs, um psychologische Hilfe zu leisten, sagte DRK-Präsidentin Gerda Hasselfeldt bei einem Besuch in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Betroffen seien auch Helfer.

"Teilbereiche sind immer noch ohne Strom und Trinkwasser", teilte die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) mit. Beim Trinkwasser habe die Bundeswehr die Kommunen per Helikopter unterstützt, hieß es. Am Donnerstagabend teilte die Kreisverwaltung Ahrweiler mit, dass für die ganze Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler sowie für Altenahr und Adenau ein Abkochgebot gelte. In einigen Bereichen seien Rohrbrüche festgestellt worden, die die Qualität des Trinkwassers mindern könnten, hieß es. Das Leitungswasser müsse nun untersucht werden. "Erst wenn weitere Untersuchungsergebnisse belegen, dass das Leitungswasser mikrobiologisch ohne Beanstandung ist, kann das Abkochgebot für die Kreisstadt und Ortschaften aufgehoben werden."

Rheinland-Pfalz legte mittlerweile ein Sonderförderprogramm für die Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung im Katastrophengebiet auf. Damit könnten Kommunen in den betroffenen Regionen sofort mit dem Wiederaufbau beginnen, teilte das Klimaschutzministerium mit. Kosten entsprechender Investitionen können vom Land übernommen werden, das dafür 20 Millionen Euro bereitstellt. Nach den Worten von Klimaschutzministerin Anne Spiegel (Grüne) war das Hochwasser "eine extreme Katastrophe weit jenseits eines hundertjährigen Hochwassers". "Die Katastrophe war absolut einzigartig", sagte sie in Mainz.

Das finanzielle Ausmaß der Katastrophe ist nach den Worten von Finanzministerin Doris Ahnen (SPD) noch unklar. "Sicher ist, die sichtbaren Schäden gehen schon jetzt in die Milliardenhöhe", sagte sie. Ob ein Nachtragshaushalt für 2021 erforderlich sei, sei noch nicht abzusehen. "Schon jetzt ist klar, dass die Katastrophe den Landeshaushalt auf Jahre hinaus belasten und beschäftigen wird."

Für den Wiederaufbau sind nach Ansicht des Sinziger Bürgermeisters Andreas Geron (parteilos) Ingenieure und Verwaltungskräfte für jede Kommune notwendig. "Wir brauchen Hilfe: Geld, Manpower, Fachkräfte, Ingenieure, die zeitgleich im Ahrtal 20, 30 Brücken bauen", sagte er.

"Vier Landesbeamte in jeder betroffenen Kommune wären ideal, um diese massiven Schäden schnell zu beheben." Am besten sei es, jeder Kommune einen Ingenieur für fünf bis zehn Jahre zuzuweisen, bezahlt vom Land, sowie eine Verwaltungskraft für Förderanträge. CDU-Oppositionsführer Christian Baldauf habe zu Recht von der "Stunde null" gesprochen.

Baldauf schlug zur Aufarbeitung der Katastrophe eine Enquete-Kommission vor. Einen Untersuchungsausschuss, wie ihn die AfD fordert, hält er nicht für das richtige Instrument. "Mit Blick auf die Zukunft muss als dringende Aufgabe der Vorsorge zudem die Frage der Elementarschadenversicherung geregelt werden", sagte Baldauf.

Fraktionschef Joachim Streit von den Freien Wählern schätzt die Kosten des Wiederaufbaus auf "zig Millionen Euro". Daher sei ein Sonderhaushalt Wiederaufbau beim Bund und beim Land mit zwei Milliarden Euro wie bei der Pandemie notwendig. Nötig sei auch ein Regenfrühwarnsystem mit genauen Warnstufen und Meldeketten.

© dpa-infocom, dpa:210722-99-478653/6

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