Vor vielen Jahren engagierte das Einzelhandelsunternehmen Kaufland schon einmal einen mit Luft gefüllten Werbeträger, der sich willfährig von Dritten befüllen ließ. Star der global-egalen Aktion "Eine Tüte geht um die Welt" waren alle möglichen Beutel vom Modell "reißt noch an der Kasse" bis zu diesen erstaunlichen Massivtextilien, mit denen sich auch Bauschutt transportieren ließe. Mit solchen Tüten im Gepäck reisten damals Kauflandkunden um die Welt und schickten Fotos nach Hause: Ich und meine Kauflandtüte in New York, ich und meine Kauflandtüte auf einem Kamel. Das war vielleicht ein bisschen doof, aber in dem Sinne, wie es auch gute Werbung manchmal sein darf. Keep it simple, stupid.
Gerade geht offenbar wieder eine Tüte um die Welt, allerdings eine zum Rauchen - und, so stellt sich das in Gedanken dar, besonders doll daran gezogen hat Schlagerbekanntheit und Fernsehknalltüte Michael Wendler im floridanischen Cape Coral. Was dieser Michael Wendler von dort per Social Media in der Nacht ausgesendet hat, gilt formal als "Insta-Story" - inhaltlich war sie deutlich schwerer einzuordnen, diese Mischung aus Fake-Science-Slam und Selbstzerstörung, die noch dazu durch suchende Seitenblicke auf irgendwelche Notizen zu einer Spezialausgabe Powerpoint-Karaoke wurde.
Überall im Internet kann man nachlesen, was genau Michael Wendler in diesem Video gesagt (es geht irgendwie und sehr wirr um die Corona-Politik der Bundesregierung) und wie zügig und firm das Unternehmen Kaufland darauf reagiert hat, das den Wendler nämlich in guter, alter (Knall-)Tütentradition gerade eben erst als Werbefilmfigur engagiert hatte und jetzt den Clip ganz fix überall löschte.
An dieser Stelle soll die Einordnung reichen, dass es für unbedarfte Social-Media-Laufkundschaft wirken musste, als sei das Transferfenster verlängert worden und als verkünde hier ein kurz vor der Vertragslosigkeit stehender Spieler seinen Wechsel vom 1. Fernsehclub Köln (RTL, DSDS) zur Spiel- und Stussvereinigung Telegram (Attila Hildmann) in eine andere und jedenfalls unterklassige Liga.
Teile des Internets funktionieren wie eine Slotmaschine für Trash
Ist das lustig? Schon, eben so, wie man es auch lustig finden kann, wenn jemand stolpert und hinfällt, den man nicht mag. Lustig auch, weil man sich in einer Zeit weitgehender Orientierungs- und Ahnungslosigkeit für ein paar Momente mal wieder geistig sicher und distinguiert fühlen kann. Und lustig auch, weil so ja ein Teil des Internets funktioniert, wie eine Slotmachine für Trash. Man muss oben nur seine Zeit in den Schlitz werfen, und dann kommt unten fortlaufend der bunteste Quatsch heraus.
Wenn man sich Michael Wendlers Insta-Story aber nicht mit Augen anschaut, die Amüsement suchen, sondern mal ernsthaft, dann sieht man einen Mann, für dessen Bezeichnung als "troubled" es schon viel jener Höflichkeit braucht, die das Englische für den zwischenmenschlichen Umgang miteinander bereithält. Und natürlich ist es leider auch gefährlich, wenn da eine fernseh- und digitalöffentliche Person geistigen Bankrott erklärt, wenn diese Person so selbstbewusst auftritt auch bei kompletter Ahnungslosigkeit.
Im Habitat Privatfernsehen hat sich vor Jahren schon das schlichte Ordnungsprinzip des Lagerdenkens etabliert, weil dieses Prinzip es dem Publikum erleichtert, sich zu Gesendetem irgendwie zu verhalten. Als Sarah und Pietro Lombardi sich trennten, gab es #TeamSarah und #TeamPietro und es gab noch eine Art gedankliche Restschweiz, nämlich den ironischen Zeigefingersatz, Hauptsache Alessio, dem gemeinsamen Sohn, gehe es gut.
Dieses Lagerdenken ist kein Problem, solange es darum geht, im "Sommerhaus der Stars" oder auf "Love Island" das Personal des Reality-TV zu sortieren. Es kann durchaus eines werden, wenn selbst die Realität in dieses Prinzip gezwungen wird, wenn im aufkommenden Corona-Winter ein gelernter Speditionskaufmann aus Dinslaken mal eben Zehntausenden mit Feuereifer zuruft, er sei endlich aufgewacht, und alle anderen sollten das auch.
Es gibt Zeitdiebe - und jene, die sich von ihnen beklauen lassen
Manche Menschen sehnen sich über jede Vernunft hinweg offenbar nach solcher Aufmerksamkeit, vielleicht, weil erst diese Aufmerksamkeit ihnen das Gefühl gibt, real zu sein. Das ist nicht unbedingt zu kritisieren. Blöd aber ist, dass es vielleicht früher einmal das schöne Prinzip des Primus inter Pares, auch der Prima inter Pares gab, dem eine Idee selbstloser Ehrbarkeit zu Grunde lag. In der gegenwärtigen Evolutionsstufe von Social Media ist daraus das Prinzip Primat inter Pares geworden, bei dem die Aufmerksamkeit tendenziell jenen zufällt, die auf unwahrscheinlichste Weise mit Unfug emotionalisieren.
Auf diese Weise wird, mindestens, unglaublich viel Aufmerksamkeit und Zeit gebunden, die sich für vieles andere und sogar Wichtiges verwenden ließe. Und wer zumindest bei diesem Gedanken innerlich leicht nickt, der darf sich daran erinnern, dass auch im Internet zum Diebstahl oft genug zwei gehören: einer, der stiehlt - und einer, der sich beklauen lässt.