Süddeutsche Zeitung

Mutmaßliche Belästigung von Frauen:Von 29 Fällen bleibt nur ein einziger Anklagepunkt

  • Bereits im März dieses Jahres wurde bekannt, dass mehrere Frauen den früheren Leiter der Außenstelle Lübeck des Weißen Rings, Detlef H., beschuldigten, sie sexuell belästigt zu haben.
  • Drei der vier Klagen hat die Strafkammer des Landgerichts in Lübeck allerdings bereits kassiert und den Fall eine Instanz nach unten ans Amtsgericht verwiesen.
  • Grund dafür sei, dass einige der Fälle bereits "verjährt" sind. In den verbliebenen Fällen ist die Staatsanwaltschaft vom hinreichenden Tatverdacht überzeugt. Detlef H. bestreitet die Vorwürfe.

Von Thomas Hahn, Lübeck

Am Montagnachmittag hatte Detlef H. den nächsten Termin bei seinem Anwalt Oliver Dedow in Lübeck. Zu besprechen gab es den Fortgang im Prozess um den Vorwurf, er, H., habe in seiner Zeit als Lübecker Außenstellen-Leiter der Hilfsorganisation Weißer Ring hilfesuchende Frauen sexuell belästigt. Das Gespräch muss relativ entspannt verlaufen sein, denn nach Stand der Dinge ist von der Anklage der Staatsanwaltschaft nicht viel übrig. Drei von vier Punkten hat die Strafkammer des Landgerichts in Lübeck kassiert und den Fall zudem um eine Instanz nach unten ans Amtsgericht verwiesen. Oliver Dedow ist zuversichtlich, dass sich vor Gericht auch der letzte Vorwurf, der des Exhibitionismus, auflösen werde. Freispruch ist das Ziel, Anwalt Dedow sagt: "Die Staatsanwaltschaft hat sehr einseitig gewertet."

Der Fall des Lübeckers Detlef H. hat im März das ganze Land beschäftigt. Denn der Vorwurf ist ungeheuerlich: Detlef H., früher Kriminalpolizist und in politischen Kreisen der Hansestadt gut vernetzt, soll seine ehrenamtliche Hilfeleistung ausgenutzt haben, um Frauen zu belästigen. Der Spiegel und die Lübecker Nachrichten berichteten über Frauen, denen sich H. unsittlich genähert und denen er sogar Prostitution nahegelegt haben soll. Schleswig-Holsteins Weißer-Ring-Chef Uwe Döring und dessen Stellvertreter Uwe Rath traten zurück. Der Opferhilfeverein sah die Glaubwürdigkeit von mehr als 3000 ehrenamtlichen Mitarbeitern bedroht und ließ Reformen folgen: Der geschäftsführende Bundesvorsitzende darf mittlerweile Außenstellenleiter abberufen, eine unabhängige Vertrauensperson ist installiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelte in 29 Fällen mit 24 Frauen; teilweise hatten sie selbst Anzeige erstattet, teilweise führten Hinweise zu den Ermittlungen. Vier dieser Fälle sollten zur Anklage kommen.

Und nun? Vor Gericht zugelassen ist wegen eines hinreichenden Tatverdachts vorerst nur noch der Vorwurf, Detlef H. habe vor einer Hilfesuchenden sein Geschlechtsteil herausgeholt. H. bestreitet auch das. "Klassische Hauptverhandlung", sagt dessen Anwalt Dedow, "Aussage gegen Aussage." Und dann im Zweifel für den Angeklagten? Sind die Vorwürfe gegen H. falsch? Der Fall führt die Justiz in den Grenzbereich von Recht und Gerechtigkeit.

Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft waren umfassend. Die Frauen wurden einzeln befragt. Sie berichteten ausführlich. Seitenweise Vernehmungsprotokolle entstanden. Auch Detlef H. hat sich über seinen Anwalt Dedow eingelassen. Tenor: Alle Anschuldigungen seien falsch und aus Missverständnissen entstanden. Die Frauen hätten H.s lockere Art zu wörtlich genommen. Zu mancher Annäherung sei es nach Treffen gekommen, bei denen H. auf Sympathie habe schließen können. Dedow schildert einen Fall, den die Staatsanwaltschaft zur Anklage bringen will, so: Nach einem gemeinsamen Abend mit Wein habe Detlef H. die Frau nach Hause gefahren und im Gewerkschaftshaus noch etwas holen wollen. Die Frau habe ihn begleitet und behaupte nun, H. habe sie im Büro küssen wollen. "Sie schließt das aus gewissen Bewegungen", sagt Dedow. "Dabei ist nicht einmal klar, ob er sie küssen wollte. Und wenn ja: Welchen Kuss wollte er ihr geben? Einen normalen Wangenkuss? Einen Lippenkuss? Das sind keine einschlägigen Sexualhandlungen."

Der Anwalt wertet sehr einseitig, das ist sein Job. Die Staatsanwaltschaft folgt den Angaben der Frauen. Dass sie so viele der 29 Fälle verwerfen musste, erklärt sie vor allem mit "formalen Gründen": Verjährung oder andere Strafverfolgungshindernisse, wie es in der Juristensprache heißt. Nach sexuell motivierten Beleidigungen zum Beispiel muss die betroffene Person binnen dreier Monate einen Strafantrag stellen. Wer den Mut bis dahin nicht gefasst hat, kann den Vorfall nicht vor Gericht bringen. Aber in den verbliebenen vier Fällen ist die Staatsanwaltschaft vom hinreichenden Tatverdacht überzeugt. Wegen der Ablehnung der drei Fälle durch das Landgericht hat sie eine sofortige Beschwerde beim Oberlandesgericht in Schleswig eingelegt. Die Entscheidung darüber dürfte im kommenden Monat fallen.

H.'s Anwalt Dedow ärgert sich demonstrativ darüber, dass die Staatsanwaltschaft vor allem formale Gründe nennt, wenn sie erklärt, warum 25 Verfahren eingestellt wurden: "Wenn sie nicht verjährt gewesen wären, hätten sie auch eingestellt werden können, weil er es gar nicht gewesen ist."

Dass er diese Frage lieber nicht vor Gericht klären will, kann man sich wiederum vorstellen: In ihrer ausführlichen Anklageschrift hat die Staatsanwaltschaft 34 Personen angegeben, die im Rahmen der Ermittlungen befragt wurden. Das Gericht könnte sie alle in den Zeugenstand rufen. Dann wäre die Öffentlichkeit dabei, wenn sie ihre Geschichten von H. erzählen. Vielleicht stellt sich dabei heraus, dass H. kein Täter im strafrechtlichen Sinne ist. Aber vielleicht verstehen dann auch mehr Menschen, warum die frühere Weißer-Ring-Kundin Petra Kappler im Spiegel in einem offenen Brief an Detlef H. schrieb: "Anstatt das zu tun, was Ihre Kollegen vom Weißen Ring üblicherweise tun (zum Beispiel die Opfer ernst nehmen (...), haben Sie die Not Ihrer Opfer auf die widerwärtigste Art und Weise für Ihre narzisstischen Zwecke ausgenutzt."

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SZ vom 19.09.2018/olkl
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