Süddeutsche Zeitung

Weinstein-Prozess und Me-Too-Bewegung:Sexuelle Übergriffe sind keine Frage des Charakters

Ab heute berät die Jury, ob Harvey Weinstein ein Sexualstraftäter ist. Die Vorwürfe gegen ihn sind gewaltig - auch, weil sie die Alltäglichkeit von sexueller Belästigung und den Umgang damit offenbart haben. Verantwortlich bleibt jedoch der Täter.

Kommentar von Meredith Haaf

Mitunter ist der Unterschied zwischen einer medialen Freakshow und einem historischen Ereignis schwer zu erkennen. Der Unterschied zwischen einem Opfer und einem Täter erscheint dagegen klarer. Der Prozess gegen den ehemaligen Hollywood-Mogul und beschuldigten Serienbelästiger Harvey Weinstein, über dessen Urteil die Geschworenen in New York von diesem Dienstag an verhandeln werden, zeigt seit Wochen, wie wichtig es in Fällen des sexualisierten Machtmissbrauchs ist, genau hinzuschauen.

Die Showbusiness-Frauen, die vor dem Gericht ihre Mahnwachen halten; die Zeuginnen mit ihren exotischen Berufsbezeichnungen; schließlich der einst steinreiche Angeklagte mit seinem armseligen Rollator: Diese Menschen und ihre Geschichten, die in Hotelsuiten und zwischen Gala-Dinnern spielen, sind so weit weg. Was Weinstein an Machenschaften und sexualisierter Gewaltbereitschaft vorgeworfen wird, ist so gewaltig. Es wäre einfach, das Ganze als schwerwiegendes, aber hollywoodspezifisches Spektakel abzutun, "Me Too" hin oder her.

Es wäre auch kurzsichtig. Denn der Weinstein-Prozess ist ein präzedenzloser Moment der Offenbarung. Und zwar nicht, weil, wie manche meinen, am New Yorker Gericht über die Legitimität jener Bewegung entschieden wird, die durch die Enthüllungen in Gang kam. Im Gegenteil: Unabhängig vom Ausgang ist der Prozess gegen Weinstein schon deshalb historisch, weil nie zuvor so öffentlichkeitswirksam demonstriert wurde, was das Hauptproblem ist, wenn es um den Umgang mit sexualisierten Übergriffen geht: Wer die Verantwortung in solchen Fällen hat, das gilt immer noch weitgehend als Interpretationssache und als Konsequenz individueller Entscheidungen.

Seit Beginn des Prozesses geht es um Charaktereigenschaften und Umgangsformen, basierend auf einem Vorurteil, das von vielen Menschen gepflegt wird und auf das Staatsanwaltschaft wie Verteidigung setzen: nämlich, dass es eine Frage der Persönlichkeit sei, ob Mann und Frau in eine entsprechende Situation geraten. Die Beweisführung der Staatsanwältin Joan Illuzzi beschränkte sich nicht darauf, dass Weinstein sich an den zwei Frauen vergangen hatte. Sie wollte auch belegen, dass er Übergriffe mit einer Nonchalance in seinen Alltag integrierte, mit der andere zum Friseur gehen.

Weinsteins Verteidigerin Donna Rotunno hat diese Strategie umgedreht auf die Spitze getrieben. Einer Schauspielerin lastete sie deren Darstellungstalent an. Eine andere forderte sie auf, eine E-Mail vorzulesen, in der es um Weinsteins Genitalien ging - offenbar um zu zeigen, dass diese Frau indiskret genug sei, einen Hodensack zu thematisieren. Frau um Frau sollte eine Art kollektiver Charakter etabliert werden, der überambitioniert, unseriös und unbeständig ist. Die Art Frau, die einen wichtigen Mann in ihre Wohnung lässt, um sich auch wichtig zu fühlen.

Die Frage nach der Verantwortung ist für den Prozess entscheidend

Natürlich ist Weinstein, nach allem, was man weiß, ein Ausnahmetäter - aber eben nur, was das Ausmaß betrifft. Die Häufigkeit, mit der Frauen ohne Weinstein-Kontakt auf der ganzen Welt, egal ob schüchtern oder extrovertiert, jung oder alt, sexy oder sackartig gekleidet, Übergriffe erleben, lässt darauf schließen, dass Charakterfragen wenn überhaupt, dann doch wohl nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Für den Prozess und seine Wirkung entscheidender ist, was unter all dem Spektakel verhandelt wurde: die Frage, wer wie viel Verantwortung trägt, wenn übergriffige Situationen zwischen gleichberechtigten Erwachsenen entstehen. Wann genau wird aus zwei einigermaßen Ebenbürtigen einer, der sich zu viel nimmt, und eine, von der genommen wird? Sie ist der Kern aller kulturellen und juristischen Kämpfe zu diesem Thema. Donna Rotunno hat in einem Interview vor zwei Wochen gesagt, dass es ihrer Meinung nach dumme oder eitle Entscheidungen der Frauen waren, die sie in Bedrängnis brachten. Sie ist gewiss nicht die Einzige, die so denkt.

Wo aber steht in dieser Rechnung derjenige, der sich die vermeintlich dumme oder eitle Entscheidung zunutze macht? Was unterscheidet ihn von Männern, die nicht so handeln? Die "Me Too"-Bewegung muss sich immer wieder vorwerfen lassen, sie wolle Frauen von jeder Wirksamkeit in Geschlechterbeziehungen freisprechen. Kritiker betonen gern, dass zu sexualisierten Situationen "zwei dazugehören", also Frauen mitverantwortlich seien. Sie verkennen damit, dass die Bürde der Verantwortung für alles Heterosexuelle traditionell stets allein dem weiblichen Geschlecht zugeschoben wird.

Eine freie Frau ist selbstredend dafür verantwortlich, mit wem sie zum Essen geht, was sie dabei trägt und ob sie flirtet. Was der freie andere daraus schließt, und wie er mit einem möglichen Irrtum umgeht, fällt aber eindeutig in dessen Verantwortung. Und was dazwischen liegt: Auch das zu klären, bleibt das Projekt der "Me Too"-Bewegung, und es ist die Aufgabe aller.

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SZ vom 18.02.2020/lot
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