Süddeutsche Zeitung

Prozess gegen "Waldläufer von Oppenau":"Ich bin ein freiheitsliebender Mensch"

Lesezeit: 3 min

Der Mann, der im Sommer vier Polizisten entwaffnete und mit seiner Flucht eine Kleinstadt im Schwarzwald in Atem hielt, gesteht vor Gericht. Er sei von seiner Angst vor einer Verhaftung getrieben worden.

Im Prozess um seine spektakuläre Flucht mit gestohlenen Polizeiwaffen im Schwarzwald hat der als "Waldläufer von Oppenau" bekannt gewordene Angeklagte ein Geständnis abgelegt. Er habe vier Polizisten entwaffnet und sei dann mit deren Waffen geflohen, heißt es in einem Statement, das der 32 Jahre alte Yves R. zum Prozessauftakt vor dem Offenburger Landgericht von seinen Anwälten verlesen ließ. Er habe aber nie vorgehabt, damit jemanden zu verletzen. Ihn habe die Angst getrieben, verhaftet zu werden: "Ich bin ein freiheitsliebender Mensch", ließ der Angeklagte erklären. Bislang hatte sich der Mann nur unmittelbar nach seiner Festnahme geäußert.

R. ist unter anderem wegen Geiselnahme und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Im vergangenen Sommer hatte seine Flucht Polizei und Öffentlichkeit tagelang in Atem gehalten. Er hatte bei der Kontrolle einer von ihm illegal genutzten Gartenhütte im Schwarzwaldstädtchen Oppenau vier Polizisten entwaffnet, bevor er in den Wald flüchtete. Als die Polizisten sich ihm näherten, zog er eine Schreckschusspistole. Ein Großaufgebot der Polizei durchkämmte die Umgebung mit Hubschraubern, Spürhunden und Spezialkräften. Es dauerte Tage, bis die Beamten Yves R. fanden.

R. beschrieb sich über seine Anwälte als "Outdoorfreak". 2015 oder 2016 habe dann seine Lebensgefährtin ihr gemeinsames Kind gegen seinen Willen abgetrieben. Er sei in eine Krise gestürzt, habe Medikamente genommen und seinen Job verloren. Daraufhin habe er beschlossen, durch Deutschland zu wandern. "Ich wollte mir so von der Natur helfen lassen", lässt er seine Anwälte verlesen. Im Frühling 2020 beginnt er eine Art Probelauf für seine große Tour - in den Wäldern um Oppenau.

Was er seine Anwälte beschreiben lässt, klingt nach wilder Idylle: Aus Ästen und Reisig habe er sich ein Bett gebaut. Als Nahrung dienen ihm unter anderem Nüsse, Beeren, Blätter und Brennnesseln. Ein Kaninchen namens Freddy und ein Eichhörnchen namens Harald lebten mit ihm zusammen. Und Trinkwasser gewinnt er mit einem Filter. Irgendwann habe er nach einem Zwischenlager für seine Ausrüstung - darunter Messer, Schreckschusswaffen und Pfeil und Bogen - gesucht und sei für ein paar Nächte in eine scheinbar ungenutzte, zugewucherte Gartenhütte gezogen, bevor er von der Polizei kontrolliert worden sei.

Bei der Kontrolle sei die Situation eskaliert, auch weil einer der vier Beamten herablassend und provozierend aufgetreten sei. "Der Tonfall war meines Erachtens völlig unangemessen", ließ R. verkünden. Als dieser Beamte ihn habe abtasten wollen, habe er den Eindruck gewonnen, dass er verhaftet werden sollte. Daraufhin habe er "reflexartig" seine Schreckschusswaffe gezogen und diese auf den Beamten gerichtet. Dass alle vier Beamten daraufhin ihre Waffen abgaben und sich entfernten, habe ihn selbst überrascht, gab R. an.

"Während der Flucht gab es keinen richtigen Plan", verlasen seine Anwälte. Von der Dimension der Suchaktion habe R. nicht alles mitbekommen. Nach einiger Zeit sei er hungrig und dehydriert gewesen. Schließlich habe er sich nahe Oppenau einem Postboten gezeigt. Es sei ihm klar gewesen, dass dieser die Polizei verständigen werde. "Ich wollte einfach nur, dass es aufhört."

SEK-Beamte umstellten R. schließlich in einem Gebüsch an einem Steilhang, wie auch auf einem Video von der Festnahme zu sehen ist, das vor Gericht gezeigt wurde. Aufgeben sei für ihn nicht infrage gekommen, ließ R. seine Anwälte vorlesen. Er habe gehofft, erschossen zu werden, weil er nicht ins Gefängnis gehen wollte. Auf den Filmaufnahmen ist zu sehen, dass daraufhin mit einem Taser auf R. geschossen wurde. R. griff nach einem Beil und schlug um sich, wobei er einen Beamten am Fuß traf. Dann wurde er überwältigt und aus dem Gebüsch gezogen. Dass er den SEK-Beamten verletzt habe, tue ihm leid, ließ R. verlesen. Der Beamte ist nach Aussage eines als Zeuge geladenen Polizisten immer noch dienstunfähig.

Versteckt im Wald

R. ist in Oppenau aufgewachsen, hatte dort aber zuletzt keinen festen Wohnsitz mehr. Etwa seit einem Jahr soll er sich Quartiere im Wald gesucht haben. In den Medien wurde er als "Sonderling" und "Eigenbrötler" beschrieben. Oppenaus Bürgermeister Uwe Gaiser glaubt: "Er ist einfach einer, der seine Ruhe haben will." Gaiser ließ damals kurzfristig Schulen und Kitas der Kleinstadt mit gut 5000 Einwohnern schließen, während der Angeklagte auf der Flucht war. Als die Polizei durch ihn keine Gefahr für die Zivilbevölkerung sah, wurden die Einrichtungen wieder geöffnet.

Bevor sich R. aus der Gesellschaft zurückzog, stand er mehrmals vor dem Jugendrichter. Zuletzt war er 2010 zu einer Jugendstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt worden, weil er eine Bekannte mit einer Sportarmbrust schwer verletzt hatte. In der Haft absolvierte er eine Schreinerlehre. Bis zuletzt verdiente er sich bei Gelegenheitsjobs mit seinen handwerklichen Kenntnissen Geld. Bislang gibt es keine Hinweise auf eine verminderte Schuldfähigkeit des Angeklagten. Die endgültige Einschätzung des Sachverständigen soll aber vor Gericht erfolgen.

Aufgrund des großen Medieninteresses findet der Prozess in der Offenburger Reithalle statt - unter strengen Corona-Vorschriften. Ein Urteil wird für den 19. Februar erwartet.

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