Süddeutsche Zeitung

Kalifornien:Das Herz von Paradise schlägt noch

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Ein Jahr nach den verheerenden Feuern in der kalifornischen Kleinstadt kehren die ehemaligen Bewohner nur zögerlich zurück. Und langsam gehen die Fördergelder aus.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Friday Night Lights, so nennen die Amerikaner die Flutlichter ihrer High-School-Stadien, das Leuchten verkündet ein Heimspiel der heimischen Football-Mannschaft gegen eine andere Schule. Das Team der Paradise High School etwa ist seit zehn Partien unbesiegt. Die Arena ist auch Stätte der Begegnung für die Bewohner, sie reden auf den Tribünen über die vergangene Woche, was sie bewegt - gerade in dieser Stadt im Norden des US-Bundesstaates Kalifornien, die Paradise heißt und vor exakt einem Jahr beinahe komplett abgebrannt ist. "Dieses Team ist der Klebstoff, der diese Stadt zusammenhält", sagt Wendy Masters, die an der Schule Biologie unterrichtet hat und nun als Rentnerin zu den Spielen kommt: "Das Herz der Stadt schlägt wieder."

Das mag stimmen, doch ist dieser Ort ein Jahr später noch immer ein Skelett ohne Muskeln und Haut: Von 27 000 Einwohnern sind bislang gerade einmal 3500 zurückgekehrt, nur drei der 39 Footballspieler wohnen in der Stadt, die zum Symbol der verheerenden Wildfeuer geworden ist, bei denen vor einem Jahr 85 Menschen gestorben und 18 793 Gebäude zerstört worden sind. Es sind dramatische Geschichten erzählt worden damals, viele davon betitelt mit "Paradise Lost", das verlorene Paradies. Dass der Name eigentlich vom einstigen Goldrausch-Saloon "Pair-O'-Dice" (ein Paar Würfel) abgeleitet wurde, das interessierte kaum. Es passte einfach, dass ein Ort, der so heißt, von einer Katastrophe diesen Ausmaßes heimgesucht worden war.

Es gehört zum Lebensgefühl der Kalifornier, der schlimmstmöglichen Katastrophe mit größtmöglichem Trotz und Optimismus zu begegnen. Solche Geschichten lieben sie in diesem Land, wenn einer die Kapitulation verweigert und entgegen allen Wahrscheinlichkeiten obsiegt. Direkt nach der Zerstörung hatten sie verkündet, Paradise wieder aufbauen zu wollen. Präsident Donald Trump und der gerade zum Gouverneur von Kalifornien gewählte Gavin Newsom sicherten Fördergelder zu. Der Künstler Shane Grammer sprühte hoffnungsfrohe Bilder auf die Ruinen. Eines der ersten Geschäfte, das auf der Hauptstraße wieder öffnete war ein Tattoo-Studio, das den Kunden den Umriss des Bundesstaates tätowierte und ein Herz dort, wo sich Paradise befindet.

"Das Herz schlägt noch", sagt auch Stadtplanerin Lauren Gill: "Die Aufräum- und Aufbauarbeiten gehen voran." Das ist größtmöglicher Optimismus, von 14 000 zerstörten Häusern sind bislang nur 14 aufgebaut oder neu errichtet worden. Zurückgekehrte Einwohner, die Häuser nicht versichert hatten - Paradise gilt als Hochrisikogebiet -, leben in Hütten oder Wohnwagen, weil sie sich den Wiederaufbau nicht leisten können. Andere warten ein Jahr nach dem Feuer noch immer auf eine Baugenehmigung (bislang sind 317 ausgestellt worden), kürzlich hat Stromversorger PG&E aus Furcht vor einem neuen Feuer der kompletten Stadt den Saft abgedreht.

Das Trinkwasser ist noch immer kontaminiert, erst ab März soll die Versorgung mit sauberem Wasser gesichert sein. 60 Millionen sind allein dafür vorgesehen, doch langsam gehen die Fördergelder aus. Denn es brennt schon wieder in Kalifornien, es gibt schreckliche Bilder von anderen Orten. 50 000 Quadratkilometer haben in Kalifornien in den vergangenen sechs Jahren gebrannt, das entspricht ungefähr der Fläche von Niedersachsen. 186 Menschen sind gestorben, mehr als 50 000 Gebäude wurden zerstört.

Es dürfte auch in Zukunft wieder brennen, die Wälder sind noch immer zu dicht bewachsen, das Klima warm und trocken, die Stromnetze marode. Wäre es da nicht sinnvoller, von so einem Ort wegzugehen? Zum Beispiel, wenn man Jerry Wilson ist, der seit 41 Jahren in Paradise wohnt und bereits drei abgebrannte Häuser wieder aufgebaut hat und sich diesmal auch um die Häuser seiner drei Söhne kümmern muss? "Es ist wie ein Déjà-Vu", sagte Wilson kürzlich der Zeitung San Francisco Chronicle. Sein Haus steht wieder, es ist jedoch noch nicht bewohnbar, also schlafen seine Frau Patty und er in einem Wohnanhänger. "Das gehört zum Leben", sagt er, "man tut, was man tun muss."

Die 3500 Leute, die zurückgekommen sind, haben diesen Trotz entwickelt, diese Stadt nicht sterben zu lassen. Im High-School-Stadion werden an diesem Freitagabend wieder viele Geschichten erzählt, auf der vom Feuer verschonten Tribüne: wie die Spieler einander helfen, wie sie zu Freunden geworden sind, die auch mal bei Kameraden übernachten, weil es im eigenen Wohnwagen Probleme gibt. Wie der Parkplatz des Stadions zum Treffpunkt geworden ist, wie die Leute miteinander reden, sich Mut zusprechen - und wegen der Siege oft jubeln dürfen. Die Saison könnte weitergehen, darüber entscheidet der kalifornische Schulsportverband an diesem Samstag.

Genau ein Jahr nach Beginn der schlimmen Feuer in Paradise werden die Menschen also erfahren, ob die Friday Night Lights noch einmal angeschaltet werden in dieser Saison, die hin und wieder als sportliche "Traum-Saison" bezeichnet wird. Es hat einen Bericht auf dem TV-Sender ABC gegeben, in dem Spieler Lukas Hartley genau darauf angesprochen wird. "Traum-Saison?", fragte Hartley zurück, dachte kurz nach und sagte dann: "Eine Traum-Saison wäre für mich, wenn ich in mein altes Zuhause zurückkehren könnte."

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Quelle:
SZ vom 09.11.2019
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