Waffen in Kanada:Zu viele Pistolen und Gewehre

Nach der Schießerei in Toronto

Im Juli trauerte die Stadt Toronto um ein zehnjähriges Mädchen und eine junge Frau, die von einem psychisch kranken Mann erschossen worden waren.

(Foto: Mark Blinch/dpa)
  • Erst vor einer Woche wurde einem Deutschen im Westen Kanadas in den Kopf geschossen, nun sterben vier Menschen bei einer Schießerei im Osten des Landes.
  • Nun lässt sich kaum mehr bestreiten, dass in Kanada zu viele Menschen durch Waffengewalt sterben.

Von Matthias Kolb, Toronto

Es ist jetzt eine Woche her, dass auf einer Landstraße in Kanadas Westen ein deutscher Tourist durch einen Kopfschuss lebensgefährlich verletzt wurde. Die Ermittler gingen zunächst davon aus, dass die heimtückische Attacke durch "road rage" ausgelöst wurde, einen Streit im Straßenverkehr also. Doch inzwischen glauben sie, dass es kein gezielter Angriff war, wie das Portal Global News schreibt. An diesem Freitag haben sie ein Fahrzeug sichergestellt und einen Mann festgenommen, der im Verdacht steht, in den Vorfall verwickelt zu sein.

Während sich das Opfer in einer Klinik in Calgary von seiner Operation erholt, gibt es am anderen Ende des Landes, in der Stadt Fredericton, einen weiteren Vorfall, der mit Waffengewalt zu tun hat. Vier Menschen sterben bei einer Schießerei in einem Wohngebiet, darunter zwei Polizisten. Die Hintergründe sind am Freitagabend noch unklar. Das betroffene Stadtviertel wird von einem Großaufgebot von Sicherheitskräften abgeriegelt. Die Polizei bittet die Bewohner auf Twitter, in ihren Häusern zu bleiben.

Nach zwei Stunden nimmt sie einen Verdächtigen fest. Mittlerweile wurden für den 60-jährigen Deutschen und seine Familie mehr als 7000 Euro gesammelt. Das, was Richard Shannon, einer der Spender, unter den Online-Spendenaufruf schreibt, ist typisch für die aktuelle Stimmung in Kanada. "Ich bete für eine schnelle Genesung, diese Tat passt überhaupt NICHT zu Alberta". Neben großer Hilfsbereitschaft zeigt sich auch eine für das Land typische Verdrängung. Denn auch wenn der Kopfschuss im Bundesstaat Alberta ein extremer Einzelfall ist, so lässt sich kaum mehr bestreiten, dass es in Kanada zu viele Pistolen und Gewehre gibt und deswegen zu viele Menschen sterben. Erst Ende Juli hatte ein psychisch gestörter Mann in Toronto um sich geschossen und ein zehnjähriges Mädchen sowie eine 18-jährige Frau getötet. 2018 sind allein in der Drei-Millionen-Metropole 30 Menschen durch Waffengewalt gestorben.

"Wir machen uns selbst etwas vor", argumentiert Kommunikationsexperte Peter Donolo, der früher für Ex-Premierminister Jean Chretien arbeitete. Wie so oft verzerre der Vergleich mit dem großen Nachbarn im Süden die Wahrnehmung. Einer aktuellen Studie zufolge kommen auf 100 Kanadier knapp 35 Waffen. Das ist deutlich weniger als in den USA (120), aber mehr als in fast allen anderen Industrieländern (in Deutschland sind es 19). Dies führe auch dazu, dass es in Kanada zwölfmal mehr Suizide mit Waffen gebe als etwa in England, sagt Iain Overton. Oft würden Jagdgewehre benutzt. Für den Experten der britischen NGO "Action on Armed Violence" steht fest: "Kanada hat ein Waffenproblem." Besonders gefährdet sind Minderjährige: Jeden Tag wird nur in Ontario, dem bevölkerungsreichsten Bundesstaat, ein Kind und ein Jugendlicher durch eine Waffe getötet oder verwundet.

Zum Vorwurf der "Selbstgefälligkeit" gehört auch, dass die Kanadier ihre Gesetze für wirksamer halten, als sie in Wahrheit sind. 2012 hatte die konservative Regierung das landesweite Register abgeschafft und entsprechende Unterlagen für fünf Millionen Waffen zerstören lassen. Bisher hat der liberale Premier Justin Trudeau keine Verschärfung durchgesetzt; vielmehr werben einzelne konservative Abgeordnete dafür, Sturmgewehre vom Typ AR-15 zu legalisieren. Gewiss, im Vergleich zu Amerika sind die Auflagen hoch: Jeder Waffenkäufer muss nachweisen, dass er einen Kurs belegt hat und dann vier Wochen warten; so sollen impulsive Taten verhindert werden. Außerdem überprüfen die Behörden per Background-Check, ob der Antragsteller Vorstrafen oder psychische Probleme hat.

Selbsternannte Waffennarren plädieren für mehr Toleranz

Doch all das konnte nicht verhindern, dass der Todesschütze von Toronto an eine Pistole kam - wahrscheinlich stahl er sie von seinem Bruder. Zudem müssen Gangs nach Ermittlungen der Polizei nur noch selten Waffen aus den USA schmuggeln, weil immer mehr Kanadier den Verbrechern ihre legal erworbenen Pistolen und Gewehren verkaufen. Dass der Polizeichef nun zusätzliche Beamte zwischen 22 Uhr und drei Uhr morgens patrouillieren lässt, soll zwei Monate vor der Kommunalwahl die Bürger beruhigen. Auch die Forderung von Bürgermeister John Tory, die Regierung müsse den Verkauf von Handfeuerwaffen in Toronto untersagen, löst das eigentliche Problem nicht: Es sind bereits viel zu viele im Umlauf.

Die Frage, wie sich die Schießereien reduzieren lassen, prägt auch die nationale Debatte über die gun culture. Für mehr Toleranz plädieren auch selbsternannte Waffennarren wie John Evers. "Mir wird oft direkt ins Gesicht gesagt, dass ich eine Schande für unser Land sei und am besten in die USA ziehen solle", sagt Evers, der als Funktionär der Vereinigung der kanadischen Sportschützen häufig Interviews gibt. "Wir sind doch auch nur Menschen. Es gibt unter uns Bürgern eben unterschiedliche Interessen, unterschiedliche Lebenswege und Erfahrungen." Viele Kanadier seien zu Recht stolz auf die Vielfalt ihres Landes. Angesichts der jüngsten Vorfälle aber wächst die Zahl derer, die diese Vielfalt in Bezug auf die Waffen gerne einschränken würden.

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