Belgien: Vorzeitige Haftentlassung:Ex-Frau von Marc Dutroux kommt frei

Sie hat nur die Hälfte ihrer Haftstrafe abgesessen: Nach 15 Jahren kommt Michelle Martin frei. Sie ist nicht irgendeine Gefängnis-Insassin, sondern die frühere Komplizin des Sexualverbrechers Marc Dutroux. Viele Belgier sind deshalb entsetzt.

Marlene Weiss

Das Frauengefängnis Berkendael in Brüssel gilt als eines der angenehmeren Gefängnisse. Es hat nur etwa hundert Plätze, die Angestellten gelten als freundlich. Manchmal gibt es ein kleines Fest, und Insassinnen können online im Supermarkt einkaufen. Aber nach 15 Jahren Haft will Michelle Martin mehr, viel mehr: Sie fordert ihre Freiheit, zum vierten Mal bereits. Am Montag gab das Strafüberprüfungsgericht im belgischen Mons ihrem Antrag auf vorzeitige Entlassung statt.

File photo of Michelle Martin, ex-wife of child rapist Marc Dutroux, waiting in the dock in Arlon courthouse

Nach 15 Jahren Haft forderte Michelle Martin mehr, viel mehr: ihre Freiheit. Die 51-Jährige ist die frühere Ehefrau von Marc Dutroux.

(Foto: REUTERS)

Und bis Dienstag, 16 Uhr, hatte Generalstaatsanwalt Claude Michaux Zeit, um die Entscheidung, mit der er inhaltlich nicht einverstanden ist, auf juristische Fehler zu überprüfen. Er hat keine gefunden: Martin kommt frei.

Viele Belgier sind deshalb entsetzt. Denn die 51-Jährige ist nicht irgendeine Gefängnis-Insassin, sondern die frühere Ehefrau und Komplizin von Marc Dutroux, dessen Sexualverbrechen das Land in einen Schockzustand versetzten. 1995 und 1996 hatte er sechs Mädchen zwischen acht und 19 Jahren entführt, auf grausamste Weise gequält und vergewaltigt, zwei der Mädchen ermordete er. Und seine damalige Frau Michelle Martin, mit der er drei Kinder hat, war ihm bei den Verbrechen behilflich; sie mietete Lieferwagen für die Entführungen und ließ sich Medikamente verschreiben, die Dutroux seinen Opfern verabreichte.

Vor allem wird der früheren Grundschullehrerin aber zur Last gelegt, dass sie den Tod von zwei Mädchen mitverschuldete. Julie Lejeune und Mélissa Russo, beide acht Jahre alt, waren im Kellerverlies in einem Haus von Dutroux in Marcinelle eingesperrt, als dieser im Dezember 1995 wegen Autodiebstahls verhaftet wurde. Michelle Martin brachte es nicht über sich, den Mädchen zu helfen, geschweige denn, die Polizei zum Versteck zu führen. Ihre Schäferhunde in Marcinelle fütterte sie alle vier Tage, während die Mädchen qualvoll verhungerten.

Diese Untätigkeit war der Grund, dass Michelle Martin 2004 im aufsehenerregendsten Prozess in Belgiens Geschichte zu 30 Jahren Haft verurteilt wurde. Marc Dutroux selbst wurde zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Nach Ansicht von Jean-Paul Lété, Staatsanwalt in Mons, hat er derzeit keine Aussicht auf vorzeitige Entlassung: "Sein Fall ist völlig anders", sagt Lété.

"Es ist schwer zu akzeptieren"

Nach belgischem Recht dürfen Straftäter, wenn sie ein Drittel ihrer Strafe verbüßt haben, Freilassung auf Bewährung beantragen. Diese Frist hat Michelle Martin längst überschritten, sie befindet sich seit 1996 in Haft. Die überlebenden Opfer und die Angehörigen der ermordeten Mädchen sind dennoch empört. "Es ist schwer zu akzeptieren", sagt Georges-Henri Beauthier, der Anwalt von Laetitia Delhez, die im August 1996 als Vierzehnjährige von Dutroux entführt und missbraucht wurde. "Meine Klientin will keine Rache", sagt er, "aber sie will, dass man ihr die Wahrheit sagt."

Die ist Dutroux' Ex-Frau den Opfern und Ermittlern seiner Ansicht nach bis lang schuldig geblieben, ihre Aussagen seien widersprüchlich. Zudem glaubt Beauthier nicht an die Läuterung von Martin - zumal sie bereits 1989 wegen ihrer Beteiligung an Dutroux' früheren Vergewaltigungen und Entführungen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde. Martin kam jedoch 1991 wieder frei. Noch immer wartet Laetitia Delhez auf das Schmerzensgeld, das ihr das Gericht 2004 zugesprochen hat: 300000 Euro sollte sie von Dutroux, Martin und deren Komplizen Michel Lelièvre bekommen. Bisher hat sie nur 50000 Euro aus einem Opferhilfefonds erhalten.

Martin selbst sagte im Prozess, sie habe völlig unter Dutroux' Einfluss gestanden: "Es war, als setzte er mich unter Drogen, er war in allen Poren meiner Haut." Die Gutachter bescheinigten ihr mangelndes Selbstwertgefühl und eine tiefe Angst, verlassen zu werden. Martin hatte eine schwierige Kindheit. Als sie sechs Jahre alt war, starb ihr Vater bei einem Autounfall, sie selbst wurde auf dem Beifahrersitz nur leicht verletzt. Ihre Mutter soll ihr eine Mitschuld an dem Unfall eingeredet haben. Doch trotz allem bleiben Zweifel, ob Martin wirklich nur durch ihren brutalen Ehemann manipuliert wurde. "Ohne sie hätte Dutroux nicht getan, was er getan hat", sagt der Opferanwalt Beauthier.

Michelle Martin möchte nach ihrer Entlassung in einem Kloster in Frankreich leben. Noch verhandeln Belgiens Behörden mit Frankreich über die Aufnahme, und wie dort die Bedingungen in Martins Resozialisierungsplan überprüft werden können. Martin soll zum Beispiel psychologisch betreut werden und darf sich nicht den Familien der ermordeten Mädchen nähern. "Für die Opfer ist es immer zu früh", sagt der Anwalt Joris Vercraye, der den Vater der ermordeten Eefje Lambrecks vertritt. "Jean Lambrecks findet, dass die Hälfte der Haftzeit nicht reicht."

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