Süddeutsche Zeitung

Missbrauchsfall von Bergisch Gladbach:Vor der Kamera des Vaters

Lesezeit: 3 min

Jörg L. ist die zentrale Figur in dem riesigen Tatkomplex von Bergisch Gladbach. Er soll seine Tochter dutzendfach sexuell missbraucht und die Filme mit anderen Männern geteilt haben. Nun hat der Prozess gegen ihn am Landgericht Köln begonnen.

Von Jana Stegemann, Köln

Die Staatsanwältin braucht fast 80 Minuten, um die Anklageschrift vorzulesen. Clémence Bangert listet in Saal 210 des Landgerichts Köln detailliert eine sexuelle Gewalttat nach der nächsten auf, die Jörg L. vorgeworfen wird. Die Juristin steht dabei die ganze Zeit, sie trinkt nicht zwischendurch, sie arbeitet Blatt für Blatt ohne Pause ab.

Knapp 70-mal soll Jörg L. allein seine eigene Tochter zwischen Juli 2017 und Oktober 2019 schwer sexuell missbraucht haben, beim ersten Mal war das kleine Mädchen drei Monate alt, mit zwei Jahren fing es langsam an zu sprechen. Auch das ist auf einem Video zu sehen und vor allem zu hören: Als Jörg L. seiner Tochter filmend Gewalt antut, ruft diese weinend: "Mama! Nein!" und "Aua!"

Von seinen Taten machte er unzählige Fotos und Videos, die Polizei findet in seinem Einfamilienhaus in Bergisch Gladbach gigantische Mengen an kinderpornografischen Dateien. L. selbst möchte an diesem Montagmorgen sein Gesicht nicht zeigen. Vor den Fotografen und Kamerateams versteckt sich der 43-jährige gelernte Koch und Hotelfachmann mit zitternder Hand hinter einem roten Ordner, der auf einer Seite mit dem Titelbild des Films "Der Strafverteidiger" bedruckt ist.

Das Gerichtsdrama aus den Siebzigern endet mit einem Freispruch, darauf kann L. nicht hoffen. Ihm droht eine lange Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung. L. trägt Glatze und Ziegenbart zum dunkelgrauen Pulli. Seinen Verteidiger begrüßt er mit Ellenbogenkontakt, während der Anklageverlesung blickt er immer wieder durch den Saal.

Jörg L. nutzte jede Gelegenheit

"Wie üblich gegen 8 Uhr", sagt Staatsanwältin Bangert jetzt und leitet den nächsten Fall ein. Uhrzeiten und Ablauf seiner Taten sollen fast immer gleich gewesen sein. Vor allem morgens soll er seine Tochter missbraucht haben. Nur Ort und Kleidung des Opfers wechseln. Mal findet die sexualisierte Gewalt auf dem Wickeltisch statt, an einem anderen Morgen im Ehebett oder im Sommer im Planschbecken.

Vergewaltigt worden sein soll das Kleinkind von seinem Vater auch im Familienurlaub auf Mallorca und in den Niederlanden. Jörg L. nutzte jede Gelegenheit, wenn die Mutter des Mädchens nicht in der Nähe war. Mal lag das Baby auf einem gelben Handtuch, dann schlief es tief und fest auf blau-weiß gemusterter Bettwäsche. Mal trug das heute dreijährige Mädchen nur Söckchen mit pinken Blumen, ein anderes Mal einen rosafarbenen Strampler und einen gelben Schnuller.

Die Outfits des heute dreijährigen Mädchens sind den Ermittlern so detailliert bekannt, weil Jörg L. fast alle angeklagten Missbrauchstaten an seiner eigenen Tochter mit der Handykamera filmte oder fotografierte, um die unzähligen Aufnahmen in Chatgruppen wie "Parents with kids" an Gleichgesinnte mit Namen wie "Koppelstange" oder "Bubi123" zu schicken. "Hobbit72" bot er seine Tochter zum Missbrauch an.

350 Ermittler und Ermittlerinnen

L. nutzte dafür verschiedene Messengerdienste wie Threema, Skype, Tam-Tam und besaß drei Handys. An einem Morgen soll er eine Vergewaltigung live für einen Chatpartner gestreamt haben, der zeitgleich seinen Sohn missbrauchte - ebenfalls mit laufender Handykamera.

Bangert ist eine von sieben Sonderstaatsanwältinnen und -anwälten aus Köln, die derzeit nur für den sogenannten Fall Bergisch Gladbach zuständig sind. Das was zeitweise 350 Ermittlerinnen und Ermittler der Polizei Köln nach der Festnahme von Jörg L. im vergangenen Herbst aufdeckten, ist das bisher größte bekannte Missbrauchsnetzwerk Deutschlands.

Der gelernte Koch und Hotelfachmann L. gilt als zentrale Figur, weil bei ihm unzählige digitale Kontakte zu anderen Männern gefunden wurden und er Chatpartner identifizierte. Mit einem von ihnen, dem bereits verurteilten Zeitsoldaten Bastian S., traf sich Jörg L. zweimal zum gemeinsamen Missbrauch der eigenen Kleinkinder. Kurz vor einem dritten verabredeten Treffen wurden beide verhaftet.

Öffentlichkeit ausgeschlossen

130 Polizistinnen und Polizisten gehen derzeit noch 30 000 Spuren zu Tatverdächtigen, Opfern und Tatorten aus dem Komplex Bergisch Gladbach nach. Bisher sind mehr als 80 Tatverdächtige identifiziert, 50 Mädchen und Jungen gerettet, erste Urteile wurden gefällt.

Gesucht wird auch noch nach einem Mädchen mit kyrillischem Namen, welches ebenfalls in der Anklageschrift auftaucht. Dessen Live-Missbrauch schaute sich L. ebenfalls an - und schickte dem Kind virtuelle Rosen und Teddybären.

Nach der Anklageverlesung wird die Öffentlichkeit auf Antrag der Anwältin der Tochter und Ehefrau vom ersten Prozesstag ausgeschlossen, Jörg L. hatte angekündigt auszusagen.

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