Volkmarsen:Die Frage nach dem Warum

People attend a commemoration outside a church, the day after car ploughed into Carnival parade injuring several people in Volkmarsen

Menschen stellen Teelichter und Kerzen auf die Kirchenmauer in Volkmarsen.

(Foto: THILO SCHMUELGEN/REUTERS)

Nach der Gewalttat am Rosenmontag suchen die Menschen im nordhessischen Volkmarsen Trost und Halt. Zu möglichen Motiven des mutmaßlichen Täters äußert sich die Polizei nur äußerst zurückhaltend.

Von Oliver Klasen, Volkmarsen

Man muss sich stützen, halten, trösten, umarmen, manchmal zusammen weinen. Man muss zusammenstehen an so einem Tag, sonst ist alles umsonst. Nichts anderes tun sie hier gerade, auf dem Marktplatz von Volkmarsen.

Sie haben nicht alle reingepasst in die Kirche, deshalb ist auch der Marktplatz davor voller Menschen. Den ökumenischen Gottesdienst haben sie per Lautsprecher nach draußen übertragen, damit alle hören konnten, was der Pfarrer, der Bürgermeister und der Ministerpräsident Tröstliches zu sagen hatten, nicht einmal 3o Stunden nach einer Gewalttat, die die ganze Republik schockiert?

"Wachsamkeit ja, Angst nein", hat Volker Bouffier, der Ministerpräsident, in seiner Ansprache in der Kirche gesagt. Die Gesellschaft werde nicht weichen vor Tätern wie in Volkmarsen, oder, das war nur fünf Tage vorher, in Hanau. "Diese Täter haben, bei allen Unterschieden, eines gemeinsam: Sie wollen unser Gemeinwesen zerstören", so der CDU-Politiker.

Haftbefehl wegen versuchten Mordes

Jetzt, da der Gottesdienst vorbei ist und der Polizeihubschrauber, mit dem Bouffier angereist ist, schon wieder in die Nacht knattert, füllt sich die Kirchenmauer allmählich mit Teelichtern und Kerzen, die die Menschen darauf abstellen. Ein Jugendlicher, hochgewachsen, liegt in den Armen einer Frau. Er schlottert, er schluchzt. Dann geht er weiter. Zu einem Freund. Umarmt ihn, schluchzt wieder, zittert. Vielleicht hat er mitangesehen, was am Rosenmontag um 14.45 hier im Steinweg in Volkmarsen passiert ist, vielleicht kennt er mehrere der Opfer, man weiß es ja nicht, aber man spürt, dass jetzt irgendwie nicht der richtige Moment ist für Reporterfragen.

61 Verletzte, 35 davon noch im Krankenhaus, einige in kritischem Zustand, das jüngste Opfer zwei, das älteste 85 Jahre alt.

Es gibt einen Verdächtigen, gegen den am Abend Haftbefehl wegen versuchten Mordes erlassen wurde: 29 Jahre alt, Einheimischer, offenbar Einzelgänger, bei der Tat nicht alkoholisiert, nicht als Extremist bekannt, aber polizeilich auffällig geworden wegen Beleidigung, Nötigung und Hausfriedensbruch. Zurzeit ist er nicht vernehmungsfähig, weil er sich bei der Tat selbst verletzt hat. Das sind die Fakten, die man berichten kann, die halbwegs gesichert sind.

Was den Täter trieb, ist auch am Tag danach noch unklar

Manche Medien berichten auch noch einiges mehr. Dass die Familie des Verdächtigen aus Baden-Württemberg nach Volkmarsen gezogen war, dass die Schwester mal einen Friseursalon gehabt habe, dass vom Vermieter nie Klagen gekommen seien. Aber was bedeutet das?

Auch in sozialen Medien gehen die Äußerungen über den Sachstand von Polizei und Rettungskräften hinaus. Nutzer fabulieren über Informationen, die die Behörden angeblich zurückhielten, sie verbreiten Unsinn über die Nationalität des Verdächtigen, streuen gezielt Falschinformationen, kurzum, es zeigt sich das, was sich auch schon in Halle und Hanau gezeigt hat: Rechtsextremisten, Verschwörungstheoretiker und sonstige Spinner verdrehen die Fakten, um daraus für ihre Sache Kapital zu schlagen.

Die Frage nach dem Warum, die manchmal nach solchen Verbrechen am Tatort, auf Zettel geschrieben und an Stofftiere geheftet, wie eine Mahnung dasteht, sie ist in diesem Fall noch schwerer zu beantworten als sonst. Einiges deutet darauf hin, dass der 29-jährige Maurice P. den Mercedes mit Absicht in den Karnevalszug lenkte. Was ihn dazu trieb, ist jedoch auch am Tag danach noch unklar.

Erschreckend schnell wieder erschreckend normal

Die Polizei äußert sich dazu nur äußerst zurückhaltend. Sie sagt, man ermittle in alle Richtungen. Einer Nachbarin, die von einem Fernsehteam interviewt wurde, soll der Mann kurz vor der Tat gesagt haben, bald stehe er "in der Zeitung". Nach der Tat, so sagte eine Augenzeugin in einem Medienbericht, soll der Mann "irgendwie total zufrieden" gewirkt haben.

Hat hier jemand aus Geltungssucht gehandelt, aus Größenwahn, aus dem Wunsch, dass alle Welt über seine Tat spricht, schreibt und schockiert ist? Diese Frage steht im Raum, aber es gibt am Dienstag keine Antwort darauf.

Tatorte sind erschreckend schnell wieder erschreckend normal, Trümmer, Kleidungsstücke, Reifenspuren lassen sich leicht beseitigen; das Tatfahrzeug wurde schon am frühen Dienstagmorgen abgeschleppt und zur kriminaltechnischen Untersuchung gebracht. An der Stelle, an der es passierte, fallen am Dienstagnachmittag auf dem Asphalt nur die Dutzenden, mit gelber Farbe aufgetragenen Markierungen auf. Durchnummerierte Spuren. Feuerwehr und Polizei haben eine Absperrung aufgebaut, damit die Volkmarser hier in Ruhe zum Gottesdienst gehen können oder in stillem Gedenken an der Stelle innehalten können, an der es passierte. In der Stadt ist es nachmittags, bis auf die Reporter, noch recht leer. "Heute geschlossen", dieses Schild hat Fleischermeister Burk in sein Fenster gehängt und viele andere Läden haben es genauso gemacht.

Das Wetter war zuvor die größte Sorge

Gunter Böttrich war nur wenige Meter entfernt, als der Mercedes hier entlangraste. Er ist Inhaber der Apotheke, die schräg gegenüber dem Rewe-Markt liegt, wo der Wagen schließlich zu stehen kam. Am Rosenmontag ist die Apotheke immer geschlossen, aber es ist üblich, dass die Mitarbeiter trotzdem herkommen, um sich den Zug der Karnevalisten gemeinsam anzusehen. Der Platz ist ideal, denn hier kommt der Zug gleich zweimal vorbei. Kurz hinter der Apotheke, am Bahnhof, drehen die Zuggruppen um und streben wieder Richtung Innenstadt. Und außerdem kann man sich bei schlechtem Wetter in der Apotheke unterstellen. So war es auch am Montag. "Eine meiner Mitarbeiterinnen hat live gesehen, wie die Menschen durch die Luft geschleudert wurden", sagt Böttrich. "Furchtbare Bilder, kaum auszuhalten, wir sind alle geschockt."

Böttrich weiß noch, dass der silbergraue Mercedes wohl einige Zeit auf der anderen Seite der Hauptstraße gestanden hat, in der Nähe des Bahnhofs - und dann unvermittelt Anlauf nahm. "Ich bin, als es passierte, sofort rausgerannt, habe Erste Hilfe geleistet und gemeinsam mit den Sanitätern priorisiert, wer in welcher Reihenfolge auf die nach und nach eintreffenden Notarztwagen verteilt werden sollte", erzählt er. Seine Apotheke entwickelte sich dann kurzfristig zu einem kleinen Lazarett und Lagezentrum. Zwei Kinder wurden auf einer eilig herbeigeholten Matte versorgt, eine ältere Frau vorne im Laden auf einer Liege verarztet und die anderen, die vielleicht einen Schock hatten und nicht recht wussten wohin mit sich, die konnten sich auf einen der mehr als 30 Stühle setzen, die Böttrich und sein Team in den Verkaufsräumen aufstellten. "Wir haben einfach nur geholfen und eine Anlaufstelle in diesem grauenhaften Chaos geboten. Das war für uns selbstverständlich", sagt der Apotheker, dessen drei Kinder früher selbst im Karnevalsverein aktiv waren.

Hält das Wetter? Das, so sagt Christian Diste, der Präsident der Volkmarser Karnevalsgesellschaft in seiner Ansprache in der Kirche, sei am Rosenmontag eigentlich seine Sorge und die der anderen Karnevalisten gewesen. Im Vorjahr habe man den Zug, den Höhepunkt jeder Saison, deshalb absagen müssen. Traurigerweise war das Wetter dann am 24. Februar, nach 14.45 Uhr völlig unwichtig in Volkmarsen.

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