Prozess um Autoattacke in Volkmarsen:Warum rast jemand in Menschen, die feiern?

Versuchter Mord in 91 Fällen: In Kassel hat der Prozess um die Amokfahrt auf den Rosenmontagszug in Volkmarsen begonnen. Der Angeklagte schweigt, und so ist die Verhandlung auch der Versuch, sein Motiv zu finden.

Von Gianna Niewel, Kassel

Messehalle Kassel, Filzboden, Stühle auf Abstand. 360 Zuschauerinnen und Zuschauer könnten hier sitzen, das Gericht ist extra ausgewichen, aber dann sind doch nur 25 gekommen. Wer hinten steht, sieht leere Stuhlreihen und vorne klein den Angeklagten.

Am Montag hat hier die Verhandlung gegen Maurice P. begonnen, der am 24. Februar 2020 in den Rosenmontagsumzug in Volkmarsen in Nordhessen gefahren ist. Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt wirft ihm versuchten Mord in 91 Fällen und Körperverletzung in 90 Fällen vor, außerdem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr. Er habe die Tat geplant.

Der Angeklagte will an diesem Tag nichts sagen, so wie er bisher nichts gesagt hat. Und so ist das Verfahren auch ein Versuch, das Motiv zu klären: Warum rast jemand in Menschen, die feiern?

Staatsanwalt Tobias Wipplinger steht auf und liest die Anklageschrift vor. Gegen 14.34 Uhr sei Maurice P. in sein Auto gestiegen, dass er schon am Vortag in Fahrtrichtung geparkt haben soll. Zunächst sei er in die Laufgruppe "Wilde 13" gefahren, habe manche Menschen mit dem Außenspiegel gestreift, andere frontal getroffen. Sie seien durch die Luft geflogen, auf das Autodach geschleudert. Maurice P. habe dann auf den Bürgersteig zugesteuert, wo sich Kinder nach Süßigkeiten bückten. Er sei weitergefahren, immer weitergefahren, mit 50 bis 60 Kilometern pro Stunde.

Als das Auto nach 42 Metern zum Stehen kam, habe eine Frau die Beifahrertür geöffnet und versucht, den Zündschlüssel abzuziehen, Maurice P. habe sie gewürgt. Mehrere Männer hätten ihn schließlich festhalten können. Unter dem Auto hätten zu dem Zeitpunkt mehrere Kinder gelegen. Der Staatsanwalt sagt: "Sie konnten geborgen werden."

Kurz vor der Tat soll Maurice P. seinen Job als Hilfsarbeiter verloren haben

28 Menschen mussten nach der Tat stationär behandelt werden, zwei waren lebensgefährlich verletzt. Schädel-Hirn-Trauma, Mittelhandbruch, Prellungen am Rippenbogen. Als der Staatsanwalt die Verletzungen aller Geschädigten vorgelesen hat, auch Hämatome und Milzrupturen, Albträume und Anpassungsstörungen, 30 Seiten Anklageschrift, ist die Aquarellfarbe der Gerichtszeichnerin fast schon getrocknet. Ihr Bild zeigt einen jungen Mann ohne Bart, die Haare am Hinterkopf zusammengebunden. Er trägt eine weinrote Reißverschlussweste, Jeans, Ketten an den Füßen. Sein Blick ist gesenkt.

Es ist eine Besonderheit des Prozesses, dass sich das Tatgeschehen so genau rekonstruieren lässt, dass es so viele Zeuginnen und Zeugen gibt. Auch über den Angeklagten war schnell viel bekannt: Zur Tatzeit war er 29 Jahre alt, er wohnte seit Jahren in Volkmarsen. Als die Ermittler seine Wohnung durchsuchten, fanden sie viele Kassenzettel, mal eine Flasche Wodka, mal zwei, kurz vor der Tat soll er seinen Job als Hilfsarbeiter verloren haben. Einen Hinweis auf das Motiv aber fanden die Ermittler nicht, kein Bekennerschreiben, keine Spuren in eine Szene. Bei seiner Festnahme war er nüchtern.

Der erste und einzige Zeuge an diesem Tag ist Polizist, vor allem aber ist er Chronist des Karnevals, wie Richter Volker Mütze sagt, weswegen er am Rosenmontag freihatte und seine Videokamera auf der Verkehrsinsel aufbaute. Um die fuhr der Angeklagte herum, ehe er in den Umzug steuerte. Der Zeuge wird sagen, dass er gerade noch wegspringen konnte. Dass der Angeklagte die Möglichkeit gehabt hätte zu bremsen, wenn er aus Versehen in die Straße gebogen wäre. Dann wird sein Video von der Verkehrsinsel eingeblendet. Das Auto bremst nicht.

Zum Abschluss des ersten Verhandlungstages werden die Bilder der Dashcam gezeigt, die Maurice P. vor der Tat hinter der Frontscheibe montiert hatte. Die Aufnahmen beginnen, als das Auto steht. Die Kamera filmt die zersplitterte Scheibe, jemand schreit: "Steig aus, steig aus!" Aber selbst jetzt, zwischen seinem Verteidiger und seiner Verteidigerin, schaut Maurice P. nicht auf.

Das Landgericht Kassel hat 30 weitere Verhandlungstage bis Mitte Dezember angesetzt.

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