Vierfachmord von Eislingen:Geheimcode 5142

Vielleicht ist das Böse einfach so gekommen: Den Geheimcode der Täter konnte der Eislingen-Prozess lüften - nicht aber die Frage nach dem Warum. Heute wird das Urteil gesprochen.

Bernd Dörries

Ein ganzes Jahr lang, sagt Andreas H., habe er nun Zeit gehabt zu überlegen, was er sagen solle in seinem letzten Wort. Der psychiatrische Gutachter beugt sich nach vorne, der Richter greift nach seinem Kuli, um mitzuschreiben. Andreas H. nimmt seine Faust vor den Mund und saugt die Luft ein, so als brauche er viel davon, vor dem, was jetzt kommt. Viel kommt da aber nicht, und für einen Moment wirkt es so, als sei Andreas H. selbst enttäuscht, wie wenig ihm da eingefallen ist in diesem Jahr.

"Es tut mir leid, so viele Leben geändert oder in sie Eingriff genommen zu haben", sagt Andreas H.

Andreas H., 19, hat Leben nicht nur verändert, er hat Leben beendet, das seiner ganzen Familie, die er nicht beim Namen nennt in seinen letzten Worten. Else, 55, Hansjürgen, 57, Ann-Christin, 24, und Annemarie, 22.

Kein Bock, die Eltern auch noch zu töten

In der Nacht zum Karfreitag 2009 sind Andreas H. und sein Freund Frederik B. die Treppe zum Zimmer der Schwestern hochgestiegen, sie haben die abgesägten Colaflaschen über die Mündung der Pistolen gestülpt, damit es nicht so laut ist, und 19 Mal geschossen.

"Was soll denn der Scheiß", hat die eine Schwester noch gesagt, und diese Frage stellt sich letztlich bis heute.

Als die Schwestern tot vor dem Fernseher lagen, hat Frederik gesagt, er habe "kein Bock mehr", nun auch die Eltern zu töten. So sagte er später aus. "Aber Andreas hat mich in den Arm genommen, und gesagt: Halte durch, es ist gleich vorbei."

Also sind sie zu den Eltern von H. gegangen, die in einer Kneipe saßen, sie haben mit ihnen gelacht und getrunken. Dann haben sie auch die Eltern erschossen, als die wieder nach Hause kamen. Und haben sich schlafen gelegt.

Das Landgericht Ulm hat sich ein halbes Jahr und 19 Prozesstage Zeit genommen, um eine Antwort zu finden auf die Frage, wie es das geben kann: ein Familiendrama, das so aussieht, als habe der Sohn einfach keine Lust mehr auf seine Familie gehabt.

"Sie ist ihm lästig geworden, deshalb musste sie sterben", sagt die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Andreas sei es leid gewesen, immer nach der Pfeife des Vaters tanzen zu müssen. Einfach auszuziehen habe er sich nicht getraut. Die Familie töten schon. Mit dem Erbe hätten er und Frederik sich ein schönes Leben machen wollen.

Der beste Schauspieler der Schul-Theatergruppe

Frederik war es wohl, der die Schüsse abgab. Ein Freundschaftsdienst. "Frederik hat die Aussicht, einen Mord zu begehen, weniger erschreckt, als seinen Freund zu verlieren", sagt sein Anwalt Klaus Schulz.

Am Morgen danach sind Andreas und Frederik aufgestanden und wieder zum Haus der Familie gelaufen, sie sind über die Leichen gegangen und haben die Polizei gerufen. Dann haben sie sich vor das Haus auf den Gehsteig gesetzt und geweint. Sanitäter kümmerten sich um sie. Das Gesicht von Andreas H. war ganz nass vor lauter Tränen, und immer wieder hat er geschrien, dass er die umbringen werde, die das getan haben.

Vor Gericht sagt ein Lehrer von ihm aus, Andreas H. sei der beste Schauspieler, den es jemals gegeben habe in der Theatergruppe der Schule in Eislingen. "Irgendwie bin ich heute noch stolz auf ihn", sagt der Lehrer im Gericht.

Eislingen ist ein Ort mit 20.000 Einwohnern in der Nähe von Göppingen, was wiederum in der Nähe von Stuttgart liegt. Ein Ort, in dem die Menschen so fleißig sind wie gläubig.

Mehr als 30 Leute aus Eislingen hat das Gericht als Zeugen geladen, um sich ein Bild der Familie H. zu machen. Fast alle sagen dasselbe Wort: Vorzeigefamilie. Eine Familie, die ihr Glück auch gerne vorgezeigt hat. Die, sobald es ein bisschen warm wurde, im Garten saß zum Essen. Das große Glück auf der kleinen Bühne vor dem Haus.

Der Vater war Heilpraktiker, die Mutter Lehrerin. Die Familie war in fast allen Vereinen aktiv, die der Ort hergab: in der Kirche, der DLRG, dem Schützenverein. An Weihnachten verschickten die Eltern eine Karte: "Wir sind mit unseren Kindern sehr gesegnet."

Vater mit zwei Gesichtern

Andreas H. hatte an der Realschule als Klassenbester abgeschnitten und war dann auf ein Wirtschaftsgymnasium gewechselt. Er hatte Erfolg bei den Mädchen. Er konnte gut reden und hatte eigentlich alles, was in diesem Alter so wichtig ist. Für alle Zeugen war er der "Sonnyboy".

Zum 18. Geburtstag fuhr der Vater mit ihm eine schöne Uhr kaufen, und auf dem Rückweg schaute man noch im Bordell vorbei. Mit den Frauen sei es ja so, soll der Vater gesagt haben: Die Ehefrau sei doch eher ein Kamerad, für das andere bezahle man besser. Andreas wollte nicht bezahlen. Sie fuhren schweigend nach Hause.

Der Vorzeigevater und der Sohn, den man gerne vorzeigte, dem man eine schöne Uhr schenkte: Das war die eine Seite. Die andere, das war der gläubige Vater, der in den Puff geht und die Mutter offenbar verachtet.

Der Besuch im Puff habe Andreas gezeigt, dass die Familienidylle eine einzige Lüge sei, sagt Verteidiger Hans Steffan. Der Vater sei ein Choleriker gewesen, ein herrschsüchtiger Tyrann, von dem Andreas sich habe befreien müssen. Am Anfang des Verfahrens sah es so aus, als würde Hansjürgen H. der Prozess gemacht, obwohl er doch tot ist.

Er war ein asketischer Mann mit einem kühlen Lächeln, dessen Leben ziemlich viele Wendungen genommen hat. Früher hatte er einen Sexladen in Geislingen, wurde dort Porno-Hansi genannt, später zog er nach Eislingen, machte bei der CDU mit und wurde Heilpraktiker. Die Religion hat er nie gewechselt, aber im Leben ist er konvertiert, aus Porno-Hansi wurde der geachtete Bürger Hansjürgen H.

"Sein Wort war Gesetz", sagt eine Zeugin über ihn. Er war die Legislative der Familie, die die Regeln festlegte, und gleichzeitig die Exekutive, die sie kontrollierte. Einmal zog er die Tochter an den Haaren über den Tisch, zum einen Teil der Verwandtschaft verhängte er nach einem Streit eine Kontaktsperre.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was es mit dem Geheimcode 5142 auf sich hat.

Die beiden dachten, sie kämen immer davon

Der Anwalt Steffan hat im Prozess immer wieder aus einem Aufsatz des Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Günter zitiert, einem Text über die "Narzisstische Selbsttäuschung - Lüge und Gewalt im Gewand der Rechtschaffenheit": "Die Lüge nach außen ist meist unverzichtbarer Bestandteil des Gewaltsystems in der Familie, wenn Eltern ihre Kinder misshandeln, ihnen auf alle erdenkliche Weise Gewalt antun, die Kindesbedürfnisse negieren und die Kinder für ihre eigenen Zwecke missbrauchen."

Andreas, sagt sein Anwalt, sei in Wahrheit ganz anders gewesen, ein scheuer, introvertierter Bursche, der nicht zurechtkam mit dem Leben und dem Vater. "Er hatte Suizidgedanken und sich letztendlich dazu entschieden, nicht sich, sondern seine Familie zu töten."

"Wir haben gedacht, das Leben ist wie ein Film"

Der endgültige Entschluss kam wohl auf einem Ausflug, der zum Schluss des Verfahrens die "berühmte Winterwanderung" genannt wird. Es ist eine Geschichte, die zeigen soll, wie es aussah im Inneren der Familie.

Wie jedes Jahr stiegen sie einen Berg im Allgäu hoch, der Schnee wurde dichter, die Nacht kam, man hatte sich verlaufen. Der Vater schrie und tobte und peitschte die Familie nach oben. Oben auf der Hütte warf der Sohn dem Vater vor, ihr Leben aufs Spiel gesetzt zu haben. Er habe auf die Solidarität der anderen, der Schwester und der Mutter gehofft, sagt der Anwalt. Am Ende sei er allein dagestanden.

Das seien doch "08/15-Konflikte gewesen", sagt der psychiatrische Gutachter Peter Winckler im Verfahren. Für einen "Tyrannenmord" sei das etwas wenig. Die Frage ist, was es dann war.

Jeden Zeugen, der vor Gericht auftrat, hat er gefragt, ob er eine Idee habe, warum die Familie sterben musste. Nie hat er eine richtige Antwort erhalten. Viele haben gesagt, dass sie jeden Tag darüber nachdächten. Habgier kann sich Winckler als Motiv vorstellen, aber auch eine "narzisstische Mordlust" ober einfach einen "Mord aus Langeweile". Als sei sonst halt nicht viel los gewesen in Eislingen.

Frederik B. hat seinem Anwalt einmal einen Brief geschrieben aus dem Gefängnis. "Wir haben gedacht, das Leben ist wie ein Film. Während andere solche Filme geschaut haben, haben wir es getan."

Der andere - ein "Mängelwesen"

Frederik ist so etwas wie das Gegenteil von Andreas, sagen die, die ihn kennengelernt haben.

Scheu ist er und ängstlich, hat sich als Kind um Tiere gekümmert, die von einem Auto angefahren wurden. Er war in der Schule ein Außenseiter, der so in sich gekehrt war, dass er erst Jahre später merkte, wie sehr er doch am Rand gestanden hat. Ein "Mängelwesen" hat er sich selbst genannt. Er trug die falschen Klamotten und hatte nicht mal die falschen Freunde. Sondern gar keine. Dann traf er Andreas und wechselte mit ihm auf das Wirtschaftsgymnasium.

Wenn Frederik von Andreas erzählt, spricht er wie über die Liebe seines Lebens. Obwohl sie nicht schwul sind, wie der Gutachter sagt. "Ich habe jetzt erst gemerkt, wie bunt das Leben ist", sagt Frederik. Sie bauten sich eine eigene kleine Welt in der Kulisse von Eislingen, im Haus der Eltern hatten sie einen gemeinsamen Kleiderschrank, in dem sie Sachen aufbewahrten, die nur ihnen beiden gehörten.

Andreas, der "Sonnyboy", musste Frederik nichts vorspielen. Frederik hatte jemanden, dem er zeigen konnte, was da so ist hinter dieser schmächtigen Fassade. Lustig konnte er sein.

Auf einer Klassenfahrt kam Andreas auf die Idee, man könnte doch einen Beamer klauen. Sie stiegen in Supermärkte ein und in ihre Schule, bewahrten die gestohlenen Sachen im Schrank auf.

Dann war der Schützenverein dran, in dem beide Mitglied waren: Andreas manipulierte die Eingangstür, sie klauten 19 Waffen. Die Polizei ermittelte, als sei ein Kasten Bier abhandengekommen. Die beiden dachten, sie kämen immer davon. Sie trugen die Waffen im Hosenbund, wenn die Eltern nicht zu Hause waren.

Nahe ran durfte nur einer

Am Anfang sei die Idee, die Eltern zu töten, eine Spielerei gewesen, sagt Frederik. Sie erfanden einen Geheimcode, den sie sich zuriefen, in der Schule oder auf der Straße. Und sie freuten sich, weil nur sie wussten, was das bedeutet: 5142.

Die fünf ist die komplette Familie H., eins das schwarze Schaf Andreas, vier werden sterben und zwei übrig bleiben.

Der Gutachter Peter Winckler sagt in seinem Bericht, nach mehr als tausend Gutachten sei ihm nie "eine solch schwierige und mühsame Exploration untergekommen". In insgesamt 13 Gesprächsstunden habe er kein einziges Mal das Gefühl gehabt, Frederik nahegekommen zu sein. Nahe ran durfte nur Andreas.

Die Staatsanwaltschaft sagt, ein Vorteil der Tat habe auch darin bestanden, an das Familienerbe zu kommen. Wenige Wochen vor der Tat hatte Andreas die Vollmacht für ein Konto in der Schweiz bekommen.

Frederik hatte schon einen Wunschzettel geschrieben. Er wünschte sich Fallschirmsprünge, ein Auto, seine Bekannte Caro als Freundin, einen großen Fernseher, vernünftige Klamotten, einen Scharfschützenlehrgang und einen Bunker unter dem Haus. Die Reihenfolge sei willkürlich, schrieb er auf den Zettel. Daneben stand der Code.

Am Mittwoch will das Gericht sein Urteil verkünden. Der Gutachter sagt, wenn es ein Mord aus Habgier sei, spreche das für die Anwendung des Erwachsenenstrafrechts bei Andreas. Die Staatsanwältin forderte lebenslange Haft für ihn und zehn Jahre Jugendstrafe für Frederik, obwohl dieser wahrscheinlich ganz alleine schoss. Zweifelsfrei klären ließ sich das nicht mehr.

So wie man der Frage nach dem Warum auch nicht wirklich nähergekommen ist. Der Gutachter ist ratlos geblieben: "Ich habe bei den beiden nie festen Boden gefühlt", sagt er über die Angeklagten. Er habe oft nicht gewusst, was echt ist und was gespielt. Auch fünfzig Zeugen haben das nicht klären können.

Vielleicht gibt es gar keinen richtigen Grund. Vielleicht ist das Böse einfach so nach Eislingen gekommen.

Frederik und Andreas haben sich nicht gesprochen seit der Tat, sie haben sich nie angeschaut im Verfahren. "Es war die vollkommene Beziehung", hat Frederik mal gesagt. Im Gerichtssaal kauert er auf einem Stuhl und schaut auf den Boden. Manchmal blinzelt er ein wenig. Dann weiß seine Mutter auf der Zuschauerbank, dass der Sohn noch lebt in diesem vor Schuld gekrümmten Körper.

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