Vierfachmord in Annecy:Schreie und Schüsse

Einen Raubmord schließt die Polizei aus, doch was steckt hinter den mysteriösen Morden von Annecy? Bilder von Überwachungskameras sollen zeigen, ob der BMW der britischen Opfer auf der Fahrt in den Urlaub verfolgt wurde. Derzeit gehen die Ermittler von drei denkbaren Tatmotiven aus.

Stefan Ulrich, Paris

Als die siebenjährige Zainab nach zwei Operationen in einem Krankenhaus von Grenoble aus dem künstlichen Koma erwachte, fragte sie: "Wo ist meine Schwester?" Dann sagte Zainab, sie wolle die vierjährige Zeena sehen. Ihr Wunsch ist inzwischen womöglich in Erfüllung gegangen. Die Kinder, die einzigen Überlebenden der Morde vom 5. September in der französischen Ferienregion Hochsavoyen, sind zurück in ihrer Heimat Großbritannien. Während Zeena nun bei Verwandten lebt, wird die schwer an Kopf und Schulter verletzte Zainab an einem geheimen Ort betreut.

A police officer stands by a cordon close to the house of Saad al-Hilli and his family in Claygate near London

Das Haus der Familie al-Hilli in Claygate nahe London. Der französische Staatsanwalt vermutet  die Gründe für das Verbrechen in Großbritannien.

(Foto: Reuters)

Die Mädchen waren mit ihrer Familie in einem BMW Anfang September von ihrem Wohnort südlich von London nach Frankreich gefahren, um auf einem Campingplatz beim See von Annecy Urlaub zu machen. Am Nachmittag des 5. Septembers wurden sie auf einem Waldparkplatz in ihrem Auto überfallen. Der Vater Saad al-Hilli, die Mutter sowie die Großmutter wurden mit Schüssen in den Kopf ermordet. Auch ein französischer Radfahrer, der zufällig vorbeikam, wurde erschossen.

Zeena entkam dem Blutbad, weil sie sich zwischen den Beinen der Mutter versteckte. Zainab überlebte schwer verletzt. Ein kurz nach der Tat vorbeikommender weiterer Radfahrer, der pensionierte Royal-Air-Force-Pilot Brett Martin, fand als erster die Opfer. Zunächst dachte er an einen Verkehrsunfall. Dann merkte er, dass er am Tatort eines Verbrechens war. "Ich sah viel Blut und Köpfe mit Einschusslöchern", sagte er später den Ermittlern.

40 französische und 40 britische Ermittler arbeiten an dem Fall

Zainab sei zunächst herum getorkelt und dann stöhnend und halb bewusstlos auf dem Bauch gelegen. Er habe sie in die stabile Seitenlage gebracht und Hilfe geholt. Die beiden Kinder wurden noch in Frankreich von speziell ausgebildeten Beamten kurz befragt. Zeena sagte, sie habe nur Schreie und Schüsse gehört. Zainab sprach, wie aus Ermittlerkreisen bekannt wurde, lediglich von "einem bösen Mann".

Das scheint sich mit den ballistischen Untersuchungen zu decken. Danach wurden ungefähr 25 Schüsse aus einer Waffe abgegeben. Die Zeitung The Sunday Telegraph berichtet, dabei habe es sich um eine Pistole des Typs Luger P08 gehandelt, wie sie die Schweizer Armee bis 1945 verwendet habe.

Derzeit arbeiten 40 französische und 40 britische Ermittler an dem Fall. Obwohl die Strafrechtssysteme beider Staaten sehr unterschiedlich sind - Großbritannien kennt beispielsweise keine Untersuchungsrichter - sei die Kooperation ausgezeichnet, versichert der französische Innenminister Manuel Valls.

Fahnder beider Staaten durchsuchten auch am Wochenende wieder das schmucke Fachwerkhaus des Ortes Claygate bei London, in dem die Familie al-Hilli lebte. Der französische Staatsanwalt Éric Maillaud, der die Ermittlungen führt, meint, die Gründe für das Verbrechen lägen auf jeden Fall in Großbritannien. Die Beamten versuchen derzeit auch, die Fahrt der Familie al-Hilli von Claygate an den Lac d'Annecy nach zu verfolgen. Hierzu werden die Bilder von Überwachungskameras von Autobahnbrücken, Tankstellen und Mautstationen ausgewertet. Die Fahnder wollen so herausfinden, ob der BMW der Familie verfolgt wurde.

Die französische Justiz schließt inzwischen einen Raubüberfall oder einen versuchten Autodiebstahl als Erklärung für die Morde aus. Staatsanwalt Maillaud sagte, es würden noch drei andere Tattheorien geprüft. Als Motiv für das Verbrechen kommt demnach erstens eine Erbstreitigkeit in der Familie in Betracht. Die Tat könnte zweitens mit dem Beruf Saad al-Hillis zusammenhängen, der als Ingenieur unter anderem für eine Firma arbeitete, die in der Satellitenbranche tätig war. Drittens wird geprüft, ob die Gründe für die Bluttat im Irak liegen, aus dem die Familie ursprünglich stammt. Obwohl so viele Beamte auf diesen geheimnisvollen Fall angesetzt sind, dürfte die Aufklärung noch längere Zeit dauern.

In den britischen Medien wird Kritik an der französischen Justiz laut. Wegen eines Kompetenzgerangels zwischen Polizei und Gendarmerie sei der Tatort erst viele Stunden nach dem Verbrechen untersucht worden, heißt es. Dann sei die Spurensicherung nicht gründlich genug erfolgt. Zudem hätte die erste Befragung der beiden kleinen Mädchen womöglich ergiebiger ausfallen können. Die Fahnder hoffen nun, dass sich der Zustand Zainabs bald bessert. Dann soll sie eingehender befragt werde. Vielleicht wird das Mädchen doch noch den entscheidenden Hinweis geben, um den Mord an ihrer Familie aufzuklären.

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