Verschwinden von Flug MH370:Der zweite Schmerz

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Fünf Verwandte hat Dai Shuqin verloren. Vom chinesischen Staat fühlt sie sich alleingelassen. (Foto: AFP)
  • Die chinesischen Angehörigen der Vermissten von Flug MH370 fühlen sich von den Behörden schlecht behandelt.
  • Ein Jahr nach dem Verschwinden fehlt von dem Flugzeug nach wie vor jede Spur.
  • Für die Hinterbliebenen wurde ein Servicezentrum eingerichtet - sie nennen es eine Farce und berichten von Druck und Drohungen.

Von Kai Strittmatter, Peking

Den Menschen in Dai Shuqins Familie ist für gewöhnlich ein langes Leben beschieden. Sie selbst ist heute 62. Als ihre Mutter starb, vor eineinhalb Jahren, da war sie 90 Jahre alt. Nach der Beerdigung standen Dai und ihre Geschwister zusammen am Grab. Es war der September 2013. Sie pflückten Blumen und wilde Kräuter, die beim Grab wuchsen. "So wie wir das einst gemeinsam mit der Mutter getan hatten. Es war fast so, als seien wir wieder Kinder, ich und meine kleine Schwester."

Ein halbes Jahr später machte sich Dais Schwester mit ihrem Mann und der Familie ihrer Tochter in den Urlaub auf. Malaysia, der Strand von Sabah. Es gibt Fotos vom Enkel Wang Moheng, keine zwei Jahre alt, strahlend im Sand. Das letzte Lebenszeichen der Nichte Dais, kurz vor dem Heimflug, war eine Textnachricht an die Freunde zu Hause, die in Pekings verschmutzter Luft ausgeharrt hatten: "Ihr Armen. Wartet auf uns. Dann atmen wir wieder mit euch zusammen das gleiche Schicksal ein."

War es der Pilot? Eine Bombe?

Dai Shuqin sitzt am Tisch ihrer Wohnung im Norden Pekings. "Wie kann das denn sein", sagt Dai, "dass jemand einfach so weg ist?" Sie sagt nicht ein Mal: "abgestürzt". Oder "gestorben". Sie fragt: "Wo ist sie nun?" Die Schwester. Die Familie. Wo ist die Boeing 777, wo ist Flug MH370? Verschwunden seit Samstag, dem 8. März 2014. Letztes Lebenszeichen frühmorgens um 1.19 Uhr, als der Kopilot sagte: "All right, good night."

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War es ein Selbstmord? Der Pilot? Der Kopilot? Eine Bombe? Ein Jahr ist vergangen und wenn überhaupt, dann ist die Zahl der Fragen noch gewachsen, noch immer gibt es von dem Flieger keine Spur. China ist die Heimat von 153 der 239 Menschen an Bord des Fluges. Die ganze Welt verfolgte monatelang ungläubig die Suche, aber wohl nirgends waren die Hoffnung und die Verzweiflung, die Angst und der Zorn so geballt zu spüren wie hier in Peking.

"Ich habe viel begriffen in diesem Jahr"

Und jetzt, ein Jahr später, sind unter den Angehörigen Fassungslosigkeit und Erstaunen größer als je zuvor. Weil ihnen Dinge widerfahren sind, die sie sich nicht hätten träumen lassen. "Unser Schmerz, unsere Trauer, waren groß vor einem Jahr", sagt der 42-jährige Jiang Hui, dessen Mutter im Flieger saß. "Aber für viele von uns sind die Verletzungen, die wir in diesem Jahr erfahren mussten, fast schlimmer." Dai Shuqin sagt: "Ich habe viel begriffen in diesem Jahr."

Sie schlafe kaum mehr, sagt sie, seit jenem Tag. "Zwei Stunden pro Nacht vielleicht. Und nur, wenn der Fernseher dabei läuft." Sie isst auch nicht mehr viel. Vor ihr steht eine Schüssel mit drei Klebereisklößchen, das ist ihr Frühstück, das war aber auch schon ihr Nachtessen gewesen: Gestern Abend waren es noch vier Klößchen. Dai krächzt, wenn sie spricht. Sie wisse nicht, sagt sie, ob das der viele Ärger sei oder das viele Rauchen. Sie hat wieder angefangen, eine Schachtel pro Tag.

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Die Angehörigen möchten Antworten. Die Regierungen, die in Kuala Lumpur und die in Peking haben keine. Wie auch, man kann das verstehen. "Aber muss man uns so behandeln?", fragt Dai. "Wir wollen doch kein Chaos stiften, wir wollen doch nur informiert werden." Chinas Behörden richteten gemeinsam mit Malaysia Air ein Servicezentrum für die Hinterbliebenen ein, im Pekinger Vorort Shunyi. Jiang Hui, den Angestellten einer Firma für Informationstechnologie, machten die Angehörigen zu einem ihrer Sprecher, damals, als sie den Verein der Hinterbliebenen gründeten. Jiang Hui hat bis heute 43 Briefe und Anträge in das Servicezentrum getragen. "Nicht eine Antwort habe ich bekommen. Nicht eine E-Mail. Das Zentrum ist eine Farce. Sie reden nicht einmal mit uns."

Den Verein gibt es schon lange nicht mehr: Am 2. Mai 2014 erklärten ihn Chinas Behörden für illegal. Das Servicezentrum ist der einzige Ort, an dem die Angehörigen sich heute noch treffen dürfen - unter den Augen von Zivilfahndern, Polizisten und Beamten vom "Büro für die Bewahrung der Stabilität", ebenfalls ein Polizeiorgan. All sie bevölkern mittlerweile das Zentrum. Dai und Jiang gehen dennoch regelmäßig dorthin, um andere Angehörige zu treffen und um immer weiter Fragen zu stellen. Und sie werden regelmäßig unter Druck gesetzt. "Leute aus der Firma, aus dem Bekanntenkreis und vom Nachbarschaftskomitee, praktisch jeder aus meinem Umfeld, hat mich im letzten Jahr aufgesucht und zu überreden versucht, meine Nachfragen einzustellen", berichtet Jiang Hui.

Fünf Verwandte hat Dai Shuqin verloren. Vom chinesischen Staat fühlt sie sich allein gelassen. (Foto: Kai Strittmatter)

Vor zwei Monaten erst seien nachts wieder Beamte gekommen, erzählt Dai Shuqin, hätten beim Versuch, in ihre Wohnung einzudringen, ihr Türschloss kaputt gemacht. Einmal, am 14. Juli letzten Jahres, saß sie im Servicezentrum gemeinsam mit 16 ratlosen Angehörigen aus der Provinz, denen an diesem Tag das Geld fürs Hotel in Peking ausgegangen war. Die Polizei führte sie am Ende alle ab, auf die Wache. "24 Stunden hielten sie uns fest, auch zwei kleine Jungs, vier und sechs Jahre. Sie gaben uns kein Essen, nur ein Glas Wasser. Gegen was für Gesetze haben wir verstoßen, fragten wir? Sie verhörten mich: ,Wer steckt hinter euch, wer ist euer Organisator?' Sie beschlagnahmten meine Geldbörse, mein Handy, meine Zigaretten." Dai Shuqin starrt auf ihre Klößchen. "Warum?"

"Es ist die Staatsräson"

Sie verstehen es nicht. "Malaysia gibt uns keine Antwort, gut, das ist ein fremdes Land", sagt Dai. "Aber unser eigenes Land. Der Druck, die Drohungen." Und wieder: "Warum?" Allein deshalb, weil dieser Staat ein Häuflein Unzufriedene selbst dann nicht erträgt, wenn sie mit selbstgemalten Bannern vor die Botschaft eines anderen Landes ziehen? "Es ist die Staatsräson", sagt Jiang Hui. "In China zählen die Leben Einzelner immer weniger als die Staatsräson." Aber vor was genau ihr Staat sich schützt, indem er sie bespitzelt und bedrängt, das ist ihnen weiter rätselhaft. Ist es da ein Wunder, dass viele von ihnen heute mehr denn je an eine Verschwörung glauben? Dass sie ihre Verwandten am Leben zu wissen vermeinen? Entführt und versteckt an einem geheimen Ort?

"Wir waren fast alle Atheisten", sagt Dai Shuqin. "Aber jetzt gehen wir zum Tempel und bitten die Götter um Hilfe. Wir glauben jetzt an Dinge, die wir nicht sehen können." Im September letzten Jahres jährte sich der Tod ihrer Mutter zum ersten Mal. Sie wagte nicht, zum Grab zu gehen. "Wie kann ich vor ihrem Grabstein stehen, wenn ich ihr nicht zu sagen vermag, wo meine Schwester geblieben ist?"

© SZ vom 07.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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