Verschollenes Malaysia-Airlines-Flugzeug:"Keine Hoffnung, nur Horror"

Verschollenes Malaysia-Airlines-Flugzeug: Eine Angehörige eines Flugzeuginsassen in einem Pekinger Hotel.

Eine Angehörige eines Flugzeuginsassen in einem Pekinger Hotel.

(Foto: AFP)

Die Angehörigen der 239 Passagiere des vermissten Malaysia-Airlines-Flugzeugs sind verzweifelt. Dass die Maschine noch nicht gefunden wurde, helfe ihnen nicht bei der Bewältigung, sagt der Notfallpsychologe Gerd Reimann im Gespräch mit SZ.de. Im Gegenteil.

Von Felicitas Kock

Gerd Reimann ist seit 20 Jahren als Notfallpsychologe im Einsatz und betreut Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Im SZ.de-Interview erklärt der 59-Jährige, was das Verschwinden der Malaysia-Airlines-Maschine für die Angehörigen der Passagiere bedeutet.

Süddeutsche.de: Herr Reimann, einen geliebten Menschen zu verlieren - ist das das Schlimmste, was man erleben kann?

Gerd Reimann: Es ist auf jeden Fall eine extreme Belastung. Aber man muss unterscheiden: Stirbt der Partner, ein Kind oder ein Elternteil nach langer Krankheit? Hatte der Angehörige Zeit, sich auf den Tod vorzubereiten? Natürlich wird er in diesem Fall trotzdem trauern, wenn es soweit ist. Aber er dürfte auch erleichtert sein, dass das Leiden für den Verstorbenen ein Ende hat. Ganz anders verhält sich die Sache, wenn ein Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wird. Durch ein Unglück oder Gewalteinwirkung zum Beispiel.

Was macht solch ein plötzlicher Tod mit den Angehörigen?

Das ist ein traumatisches Erlebnis, eine starke psychische Erschütterung. Wie bei den meisten Ereignissen dieser Art reagieren die Menschen ganz unterschiedlich. Zunächst sind die meisten Betroffenen geschockt und orientierungslos. Viele suchen die Schuld bei sich, fragen, was sie falsch gemacht haben - obwohl sie objektiv gesehen natürlich nichts dafür können. Etwa ein Drittel wird den Schicksalsschlag im Laufe der Zeit von sich aus verarbeiten. Das sind die sogenannten "Selbstheiler". Ganz anders reagiert die "Risikogruppe", mit der Notfallpsychologen sich hauptsächlich beschäftigen. Dabei handelt es sich um Menschen, die ein traumatisches Ereignis nicht aus eigener Kraft verarbeiten können - die etwa über den Tod des Partners oder Kindes auch nicht nach einiger Zeit hinwegkommen. Quasi zwischen den beiden steht die die Gruppe der "Wechsler", die das Erlebte selbst verkraften, es sei denn, es kommt eine weitere Belastung hinzu.

Sie unterscheiden zwischen einem langsamen und einem plötzlichen Abschied. Was ist, wenn der Tod des geliebten Menschen sehr wahrscheinlich, aber nicht sicher ist?

Das ist - wie bei dem Flugzeug, das gerade vermisst wird - besonders schlimm. Angehörige brauchen Gewissheit.

Auch wenn die Gewissheit darin besteht, dass der geliebte Mensch tot ist?

Auch dann. Wer die Berichterstattung über die verschwundene Maschine als Außenstehender verfolgt, glaubt vielleicht, dass die fehlenden Informationen über den Verbleib des Flugzeugs die Angehörigen hoffen lassen.

Und das tun sie nicht?

Nein, dafür ist kein Platz. Da ist keine Hoffnung, da ist nur Horror. Jede Gewissheit wäre für diese Menschen leichter zu ertragen als die gegenwärtige Ungewissheit. Solange die Angehörigen keine bestätigten Informationen darüber bekommen, was mit den Passagieren der Maschine geschehen ist, können sie sich weder real noch im Geiste verabschieden. Und der Abschied ist nun mal der erste Schritt, um den Verlust verarbeiten zu können.

Würden Sie als Notfallpsychologe denn versuchen, den Angehörigen Hoffnung zu machen?

Auf keinen Fall. Man darf die Situation, in der sich die Angehörigen befinden, nie bewerten. Weder würde ich der Person Hoffnung einreden, noch würde ich sie vorsorglich auf das Schlimmste vorbereiten. Wie bei jedem Menschen, der eine traumatische Erfahrung macht, gilt es zunächst einmal, zuzuhören. In den ersten 24 bis 48 Stunden sind die meisten Angehörigen im Schockzustand. Da brauchen sie eigentlich noch keinen Psychologen. Ein Mensch, der ihnen zuhört und für sie da ist reicht schon.

Und nach der Schockphase?

Da ist der Psychologe gefragt. Er muss nach den Ressourcen des Betroffenen suchen, also nach Dingen, aus denen dieser Kraft schöpfen kann. Wenn der Betroffene jemanden zum Reden hat, hilft das. Oder wenn er gerne Sport macht. Der Psychologe muss dafür sorgen, dass sich aus einer Belastung keine Krankheit, keine posttraumatische Belastungsstörung, entwickelt.

Im Fall der verschollenen Malaysia-Airlines-Maschine spielt auch die weltweite Aufmerksamkeit eine Rolle. Jeden Tag berichten Medien auf der ganzen Welt über die Suche nach dem Flugzeug.

Ständige Spekulationen sind für Angehörige extrem nervenaufreibend. Das Schlimmste ist, wenn sie Dinge aus der Presse erfahren, über sie zuvor noch nicht von ihren Kontaktpersonen gehört haben. Da kommt schnell die Vermutung auf, dass ihnen nicht alles gesagt wird; dass bewusst Informationen zurückgehalten werden. Ideal wäre, wenn alle Angehörigen Zugang zu Gruppen- und Einzelgesprächen bekämen. Außerdem sollten Rückzugsräume vorhanden und die Verpflegung mit Essen und Getränken gewährleistet sein, damit sich die Betroffenen nicht auch noch damit beschäftigen müssen.

Das Flugzeug ist jetzt seit zwei Wochen vermisst, es gibt keine sichere Spur. Was, wenn die Maschine nie gefunden wird?

Nach einer gewissen Zeit können Menschen juristisch für tot erklärt werden. Wenn Angehörige ihre Toten nicht begraben können, ist es wichtig, dass sie dennoch ihre Trauerrituale haben, um sich zu verabschieden. Das kann ein Brief an den geliebten Menschen sein, der verschwunden ist, ein Foto des Vermissten, eine Kerze - alles, was dem Angehörigen hilft, den Verlust zu verarbeiten und als Teil des eigenen Lebens zu akzeptieren.

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