Versäumnisse der Behörden im Mordfall Lena:Spur der Schlamperei

Wie konnte sich Lenas mutmaßlicher Mörder selbst anzeigen und nur wenige Monate später ungehindert das elfjährige Mädchen töten? Wer versucht, den Weg der Ermittlungen nachzuzeichnen, stößt auf schwere Versäumnisse, organisatorische Schwierigkeiten und Fehleinschätzungen.

Lena Jakat

Wie konnte das passieren? Diese Frage steht über der Kritik, die nun von allen Seiten auf Teile der niedersächsischen Polizei einprasselt. Wie konnte jemand ein Mädchen ermorden, gegen den seit Monaten ermittelt wurde? Politiker, Strafrechtler, Kriminologen und Polizeigewerkschafter: Sie alle reagieren mit Fassungslosigkeit auf die schweren Versäumnisse, die der stellvertretende Polizeipräsident von Osnabrück am Dienstagabend eingestanden hat. Wer versucht, den Weg der Ermittlungen nachzuzeichnen, stößt auf lange Dienstwege und Schlamperei in der Polizeiarbeit.

Justiz bestätigt Kinderporno-Vorwürfe gegen Tatverdächtigen

Wie konnte das geschehen? Der mutmaßliche Mörder der elfjährigen Lena zeigte sich schon im November selbst an. Doch zunächst geschah nichts.

(Foto: dpa)

Im November erscheint ein junger Mann in Begleitung eines Psychologen im Kommissariat in Emden. Er zeigt sich selbst an, sagt, er habe kinderpornografische Bilder und Videos gesammelt und vor einiger Zeit auch selbst angefertigt. Wie erst jetzt bekannt wird, geht es konkret um den Missbrauch einer Siebenjährigen im Oktober 2010. Der junge Mann hatte das Mädchen in seinem Elternhaus entkleidet und nackt fotografiert. Auf dem Polizeirevier sagt der 18-Jährige, dass er "aktiv gegen seine Neigung" vorgehe und sich bereits in fachlicher Betreuung befinde. Tatsächlich hat er zu diesem Zeitpunkt gerade einen zweimonatigen Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie Aschendorf hinter sich.

Die Behörden führen den Fall jedoch nicht als Missbrauch, sondern stufen ihn als kinderpornografisches Delikt ein - möglicherweise auch, weil der Stiefvater des jungen Mannes bereits zwei Monate zuvor deswegen Anzeige erstattet hatte. Ein erster, möglicherweise schwerwiegender Fehler, wie Landespolizeidirektor Volker Kluwe später einräumen wird.

"Da hätte unverzüglich und unbedingt gehandelt werden müssen", sagt der Strafrechtler Bernd Behnke, der als Verteidiger häufig Sexualstraftäter vertritt. "Es passiert sehr selten, dass sich Pädophile selbst anzeigen. Wenn es passiert, ist es ein Hilferuf: Der Mensch befindet sich dann in einer Notsituation, spürt, dass er die Kontrolle über sein Triebgefüge verliert." Daher sei eine Selbstanzeige mindestens so brisant zu bewerten wie eine Anzeige von anderen.

In der Regel, erläutert der Jurist, folgt auf eine solche Selbstanzeige eine richterlich angeordnete psychiatrische Untersuchung. Falls sich der Mann tatsächlich bereits in Behandlung befunden habe, hätten ihn die Ermittler bitten müssen, seinen Therapeuten von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Wäre er dieser Aufforderung nicht nachgekommen, hätte ebenfalls eine richterliche Untersuchung stattfinden können. Hier könnte das erste Problem liegen: "Es gibt in Deutschland viel zu wenige und nicht genügend gute Gutachter", kritisiert Behnke.

Man ließ ihn einfach gehen

In jedem Fall hätten die Ermittler "an ihm dranbleiben müssen", sagt der Anwalt aus Löffingen. Selbst wenn ihm nur auferlegt worden wäre, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden und seine Behandlung nachzuweisen, "wäre er gewarnt gewesen, hätte unter Beobachtung gestanden." Der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle von Bund und Ländern, Rudolf Egg, sagte in der ARD: "Im Interesse des Opferschutzes kann man so jemanden nicht einfach gehen lassen." Auch Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann sagte nach Bekanntwerden der Versäumnisse: "Es ist nicht nachvollziehbar, dass nicht unmittelbar Maßnahmen ergriffen wurden."

Das Kommissariat in Emden reicht die Akte des jungen Mannes im November zunächst an die Polizeiinspektion Aurich/Wittmund weiter. Zu diesem Zeitpunkt, nur einen Tag nach seiner Selbstanzeige, hat der heute 18-Jährige nach derzeitigem Ermittlungsstand bereits eine Joggerin vergewaltigt.

Emden gehört zwar organisatorisch zur Inspektion Leer-Emden, jedoch verläuft die Grenze zwischen den Zuständigkeitsbereichen nahe des Kommissariats. Da der junge Mann offenbar auf der anderen Seite dieser Verwaltungsgrenze wohnt, ist die Inspektion Aurich/Wittmund zuständig.

Diese gibt die Ermittlungsakten ihrerseits an die Staatsanwaltschaft in Hannover weiter. Dort sitzt die "Zentralstelle für Bekämpfung gewaltdarstellender, pornografischer oder sonst jugendgefährdender Schriften", die für alle derartigen Delikte in Niedersachsen zuständig ist. Nach Angaben der Sprecherin gingen die Akten dort am 6. oder 9. Dezember ein, am 14. wurde der Durchsuchungsbeschluss beantragt und am 20. Dezember vom Amtsgericht Hannover erlassen. Einen Tag später seien die Unterlagen nach Aurich zurückgegangen. Seither habe man nichts mehr von dem Fall gehört.

"Ein Riesenskandal"

Inzwischen ist bekannt: Die Durchsuchung ist nie durchgeführt worden. Doch wie kann es sein, dass ein Durchsuchungsbeschluss mehr als drei Monate irgendwo unangetastet herumliegt? "Das ist polizeiorganisatorisch nicht verantwortbar", sagt Strafrechtsexperte Behnke. "Das ist ein Riesenskandal." Die leitenden Beamten beziehungsweise die Staatsanwaltschaft hätten in jedem Fall nachfragen und auf die Umsetzung pochen müssen, sagt er.

Der Arbeitsalltag in der Hannoveraner Zentralstelle allerdings sieht anders aus. Dort wurden im vergangenen Jahr 1800 Fälle von Kinderpornografie bearbeitet. "Unsere Erfahrungswerte zeigen: Es kann Monate dauern, bis wir nach einem solchen Durchsuchungsbeschluss wieder etwas von den ermittelnden Beamten hören." Zwar gebe es Fristen, binnen derer der zuständige Staatsanwalt noch einmal nachhake, aber die seien von Fall zu Fall verschieden. Oft gehe es bei diesen Fällen um enorme Datenmengen, deren Auswertung sich über Monate hinziehe. "Da sind die Kapazitäten nunmal begrenzt."

Zur ausgebliebenen beziehungsweise falschen Reaktion unmittelbar nach der Selbstanzeige des Mannes und der möglicherweise unzureichenden Abstimmung innerhalb der Behörden könnte also ein drittes Problem kommen: die Überforderung der Polizeidienststellen vor Ort. Nicht jede Dienststelle verfügt zwangsläufig über Personal für eine solche Durchsuchung und über Fachkräfte, die die Brisanz eines solchen Beschlusses richtig einzuschätzen vermögen.

Zwar kann, wie auch Polizeigewerkschafter Bernhard Witthaut anmahnte, "Arbeitsverdichtung" keine Entschuldigung für derartige Versäumnisse sein. Doch auch Strafrechler Behnke kritisiert die generelle Überlastung der Beamten. Möglichweise würden solche Dinge dann liegengelassen, in der Annahme, "es wird schon gutgehen". "Wenn es dann aber derartig schiefgeht, kann man nur traurig sein, oder wütend." Er sieht die Verantwortung bei den leitenden Beamten. Und auch der zuständige Polizeivizepräsident Friedo de Vries nahm die Mordkomission Emden explizit von den Vorwürfen aus. CDU-Innenminister Schünemann schloss allerdings ein strukturelles Problem aus. Die personelle Ausstattung bei den zuständigen Polizeidienststellen sei "nicht prekär" gewesen, sagte er. Es sei davon auszugehen, "dass es sich im individuelles Fehlverhalten handelt."

Die strafrechtlichen Ermittlungen führt das niedersächsische Landeskriminalamt. Sie richten sich zunächst gegen zwei Beamte. Gleichzeitig soll die Polizeidirektion Osnabrück wegen möglicher disziplinarrechtlicher Verstöße gegen die beteiligten Sachbearbeiter ermitteln. Wer Schuld hat an den Schlampereien, warum die Selbstanzeige des Mannes als kinderpornografisches Delikt eingestuft wurde, wieso der Mann einfach gehen konnte und warum der Durchsuchungsbeschluss so lange nicht umgesetzt wurde: Das sind die drängenden Fragen, auf die interne Ermittler nun rasch Antworten finden müssen.

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