Vermisster Junge in Weißenfels:Eine Stadt bangt

Die Spur der beiden Kinder biegt zum Fluss hin ab. Was dort genau geschah, weiß keiner. Noch immer sucht die Polizei nach einem vermissten Sechsjährigen, dessen Schwester tot aus der Saale geborgen wurde. Die Stadt Weißenfels in Sachsen-Anhalt trauert - und hofft weiter, dass der Junge gefunden wird.

Christiane Kohl, Weißenfels

Ein wahres Lichtermeer empfängt den Besucher auf den Stufen zum Altar. Trauernde Bürger haben es in der Marienkirche zu Weißenfels entzündet. Spontan waren auf dem Marktplatz der Stadt, die im Süden von Halle liegt, am Sonntagabend an die tausend Bewohner zusammengekommen - eine Verabredung via Facebook. Bald strömten so viele Menschen in das spätgotische Gotteshaus, dass Pfarrer Martin Schmelzer feststellte: "So voll habe ich die Kirche noch nie erlebt". Eine ganze Stadt ist in Bewegung geraten, Trauer und Sorge treiben die Menschen um: Trauer um ein kleines Mädchen, das in der Nacht zum Sonntag tot in der Saale gefunden wurde, Sorge um ihren Bruder, der bis zum Montagabend immer noch verschwunden war.

Weißenfels, Suche nach vermisstem Jungen fortgesetzt

Mit Kerzen und Blumen trauern die Bewohner der Stadt Weißenfels um das tote Mädchen. Die Suche nach ihrem vermissten sechsjährigen Bruder läuft auf Hochtouren.

(Foto: dpa)

Noch hoffen die Einsatzkräfte, den sechsjährigen Jungen lebend zu finden. "Die Zeit läuft gegen uns", sagt der Sprecher der Polizei, Jörg Bethmann, "aber wir geben nicht auf." Und so suchten auch am Montag Polizisten, Feuerwehrmänner und Spezialtaucher fieberhaft nach dem Jungen. Seine fünf Jahre alte Schwester war in der Nacht zum Sonntag leblos aus dem Fluss gezogen worden, ihren Leichnam hatte man am Fanggitter einer alten Wassermühle gefunden, die mittlerweile als Flusskraftwerk dient. Ob auch ihr Bruder vom Strom der Saale verschluckt wurde oder aber fortgerannt ist aus Angst und Scham über die Tragödie seiner Schwester, wussten die Einsatzkräfte am Montagnachmittag noch nicht. "Die Spuren, die mit den Mantrailer-Hunden verfolgt wurden, lassen beide Möglichkeiten zu", sagt der Polizeisprecher.

Zwei Spezialhunde aus Thüringen hatten am Samstagabend die Spur der Kinder aufgenommen, nachdem sie nachmittags gegen 15.30 Uhr als vermisst gemeldet worden waren. Von zu Hause aus wollten die beiden zu Freunden gehen, doch sie kamen nie dort an. Anscheinend hatte niemand die Kinder auf ihrem Weg gesehen, "es gibt keine Zeugenaussagen, gar nichts", sagt der Polizeisprecher.

Doch anhand von Geruchsproben aus Kleidungsstücken der Kinder verfolgten die Hunde später ihren Weg: Von der Wohnung der Familie in der Hohe Straße waren sie über eine Steintreppe zur Leipziger Straße hinuntergeklettert, die am Fluss entlang führt. Als sie wenig später einen Spielplatz passierten, bog ihre Spur abrupt zum Fluss hin ab. Eine Weile waren die Geruchsspuren der Kinder noch auf einem Radweg entlang der Saale auszumachen, dann führte die Spur des Mädchens zum Ufer und war weg.

Womöglich aus Angst davongelaufen

Die Duftfelder des Jungen aber seien nicht mehr genau zu verfolgen gewesen, berichtet die Polizei: "Da gibt es Gerüche, die zum Fluss führen, und solche, die in die Gegenrichtung weisen." Ist der sechs Jahre alte Junge womöglich aus Angst davongelaufen, als er miterleben musste, wie seine Schwester in den Strom gerissen wurde? Fühlt er sich vielleicht mitschuldig an ihrem Tod? Oder ist auch er ertrunken?

Bei der Weißenfelser Tafel waren die beiden Kinder gut bekannt, sie sangen dort mit im Chor. Ihre Eltern seien finanziell eher schwach gestellt, heißt es in Polizeikreisen, "doch die familiäre Struktur wirkt sehr in Ordnung". Drei weitere Geschwister gibt es noch. Die älteste Schwester bedankte sich am Sonntagabend in der Marienkirche mit tränenerstickter Stimme für die Anteilnahme der Weißenfelser.

Unter den Menschen, die sich da zur gemeinsamen Andacht eingefunden hatten, waren auch viele aus ärmeren Schichten, die man sonst eher selten in der Kirche sieht. Weißenfels gehört zu jenen Orten, die nach der Wende besonders schwer von den Umbrüchen getroffen wurden: Einst ein Zentrum der Schuhindustrie, gingen Tausende von Arbeitsplätzen verloren. Viele Menschen wanderten aus der heute rund 41.000 Einwohner zählenden Stadt ab, andere verarmten. Im Moment der Tragödie fanden sie nun wieder zusammen.

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