Süddeutsche Zeitung

Verkehr:Hauptstadt des Zähfließens

Jahrelang war Berlin ein Paradies für Autofahrer. Nun löst die Metropole offiziell München ab - als die Stadt, in der man am längsten warten muss. Schuld sind nicht nur die vielen Baustellen.

Von Verena Mayer und Christina Müller

Der Autoverkehr gehörte lange zu den Dingen, die in Berlin eigentlich ganz passabel liefen. Man kommt gut durch die Stadt, Berlins Straßen sind breit, selten verzettelt man sich im Geflecht von Einbahnstraßen. Das hat historische Gründe, die heutige Metropole ist ein Konglomerat aus vielen kleinen Orten, die durch Verkehrsachsen miteinander verbunden wurden, seit DDR-Zeiten sind viele Straßen auch noch so gestaltet, dass Militärparaden darauf Platz haben. Dazu kommt, dass bis vor wenigen Jahren jeder zweite Haushalt gar kein Auto hatte, es also viel Platz für wenig Verkehr gab. Kurzum: Im Vergleich zu anderen Großstädten war Berlin fast schon ein Autofahrer-Paradies.

Umso überraschender dürfte die Nachricht sein, dass sich Berlin inzwischen auch Deutschlands Stauhauptstadt nennen darf. 154 Stunden, also mehr als sechs Tage, verlieren Autofahrer hier jedes Jahr durch dichten Verkehr. Das geht aus der aktuellen "Traffic Score Card" der amerikanischen Firma Inrix hervor, die Verkehrsdaten in mehr als 200 Städten in 38 Ländern ausgewertet hat. Berlin löst damit München ab, das im vergangenen Jahr noch auf Platz eins stand.

Tatsächlich liegt das auch an einer neuen Art der Berechnung: Anders als in den Jahren zuvor weist die aktuelle Rangliste nicht mehr die Zeit aus, die ein Autofahrer pro Jahr in einem Stau verbracht hat, sondern auch die Zeit, die in zäh fließendem Verkehr in den Städten verloren wurde. Dabei vergleichen die Studienmacher die Fahrzeit in den Haupt- und Nebenverkehrszeiten, also Pendlerverkehr versus normales Aufkommen auf den Straßen. Die Daten dazu stammen aus unterschiedlichsten Quellen, aus vernetzten Fahrzeugen, von Stadtverwaltungen oder auch aus sozialen Medien sowie Presseberichten.

Hätte man schon im vergangenen Jahr auf diese Weise gerechnet, wäre Berlin auch dann schon offizielle Hauptstadt des Zähfließens gewesen.

Dass Berlin so weit vorne liegt, hat unter anderem mit den vielen Großbaustellen zu tun, die bis heute das Stadtbild prägen. An Brücken und Autobahnzubringern ist vieles zu reparieren, an der Prachtstraße Unter den Linden, einer wichtigen Verkehrsachse, wird eine neue U-Bahn gebaut. Und die Straße des 17. Juni, die Ost-West-Verbindung schlechthin, wird inzwischen regelmäßig für Großereignisse wie Fußball-Fanmeilen, den Marathon oder die Einheitsfeierlichkeiten abgeriegelt. An diesen Tagen kann man dann auf einer mehrspurigen Straße zu Fuß gehen und sich vorstellen, wie das Leben in einer autofreien Stadt aussehen könnte - ideal für den Verkehrsfluss ist so eine Sperrung aber nicht. Auch die Zahl der Autos ist mit der wachsenden Bevölkerung in den vergangenen Jahren stark angestiegen. 2018 wurden in Berlin 1,2 Millionen Autos gezählt, und es wurden 7,2 Prozent mehr Pkw neu zugelassen als fünf Jahre zuvor. Für viele ist das eine alarmierende Entwicklung, zumal die rot-rot-grüne Regierung sich vorgenommen hat, Berlin in eine Fahrradstadt zu verwandeln.

Im Schnitt 120 Stunden im Stau

Stau ist aber nicht nur nervig, sondern auch teuer. Der Studie von Inrix zufolge entstand durch den dichten Verkehr allein der Stadt Berlin ein volkswirtschaftlicher Schaden von 1,7 Milliarden Euro, was 1340 Euro pro Autofahrer entspricht. Dabei sind direkte, durch Verschwendung von Zeit und Benzin entstehende Kosten berücksichtigt, aber auch indirekte Kosten, die etwa betroffene Unternehmen tragen müssen - und die sie in Form von höheren Preisen an die Haushalte weitergeben. Bundesweit verloren die Deutschen im Jahr 2018 durchschnittlich 120 Stunden im Stau, was für das Land Kosten von 5,1 Milliarden Euro beziehungsweise 1052 Euro pro Fahrer verursachte.

In München sind es übrigens immer noch 140 Stunden, die man in Stau und dichtem Verkehr steckt, knapp gefolgt von Hamburg mit 139 Stunden Zeitverlust.

Doch es gibt auch positive Nachrichten: In allen deutschen Städten der Stau-Top-Ten hat sich die Situation 2018 für die Autofahrer verbessert. Am besten schneiden dabei Nürnberg und Stuttgart ab. In beiden Städten hat sich der Zeitverlust für den einzelnen Autofahrer im Vergleich zu 2017 um elf Prozent verringert - also immerhin um etwa zehn Stunden pro Jahr. Stauforscher Michael Schreckenberg, Physiker an der Universität Duisburg-Essen, vermutet, dass sich die Städte nach den Diskussionen um Schadstoffbelastung und Fahrverbote endlich dazu entschlossen haben, etwas für besseren Verkehrsfluss zu tun. "Das können optimierte Ampelschaltungen oder ein besseres Baustellenmanagement sein", sagt Schreckenberg. Dass ausgerechnet Stuttgart besonders positiv auffällt, wo immer wieder die höchsten Schadstoffwerte in der Luft gemessen wurden, stütze seine These, sagt der Stauforscher: "Der politische Druck auf die Städte ist so groß wie nie. Immerhin zeigen die neuen Zahlen, dass es offenbar durchaus Potenzial gibt, den Verkehrsfluss zu verbessern."

Und die Stauhauptstadt Berlin? Die kann sich erst einmal damit trösten, dass es anderswo noch schlimmer ist. In Bogota etwa, dem Tabellenersten: Dort verliert man 272 Stunden im Stau. Der Trost währt aber nur bis Freitag - dann wird es besonders eng auf Berlins Straßen. Wegen eines Streiks werden keine U-Bahnen, Busse oder Trambahnen fahren.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4327302
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 13.02.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.