Manchmal lesen sich medizinische Studien wie Anklageschriften. So ist das auch beim neuesten Bericht des südafrikanischen "Medical Research Council", der die Nation am Kap schockiert. Man muss die Zahlen zweimal lesen, so unfassbar klingt das, was die Forscher zusammengetragen haben. Es geht um sexuelle Gewalt, um Macht und Unterdrückung, und um die Frage, was Männer eigentlich so zerstörerisch macht.
Die junge Demokratie Südafrikas hat vor 15 Jahren ihre Freiheit erkämpft, aber ihren inneren Frieden muss die Gesellschaft am Kap noch finden. Anders lassen sich die Ergebnisse der Forschungsarbeit, die von der Medizinerin Rachel Jewkes geleitet wurde, kaum erklären. Denn jeder vierte südafrikanische Mann, der bei dieser Untersuchung befragt worden ist, gibt an, er habe schon einmal oder mehrere Male eine Frau oder ein Mädchen vergewaltigt.
Genauer gesagt sind es 27,6 Prozent der Männer, die sexuelle Übergriffe zugeben. 1738 Männer aus allen sozialen Schichten nahmen an der Studie teil, ihre Angaben wurden elektronisch erfasst und blieben anonym. Die Befragten kommen aus Städten und Dörfern in den Provinzen Eastern Cape und Kwazulu Natal.
Viele Südafrikaner haben ihren moralischen Kompass verloren, wie es einmal der Bischof und Nobelpreisträger Desmond Tutu beklagt hat. Die Gesellschaft wird zermürbt durch die Gewalt. Darüber wird zwar nun immer häufiger diskutiert, aber die Gründe sind noch lange nicht erschöpfend erforscht.
Südafrika hat eine der höchsten Kriminalitätsraten der Welt, das ist seit langem bekannt. Etwa 55000 Vergewaltigungen werden laut Rachel Jewkes jährlich registriert, doch wie die Medizinerin im Gespräch mit der SZ erläutert, dürfte die wahre Zahl viel höher liegen. "Wir gehen davon aus, dass höchstens einer von neun Fällen bei der Polizei gemeldet wird", sagt sie. Das wisse man aus vielen Gesprächen, die mit betroffenen Frauen geführt wurden. Die Opfer haben Angst oder keinerlei Vertrauen in ein Rechtssystem, das mit dem Problem völlig überfordert ist. Im südafrikanischen Radio werden immer wieder Fälle vergewaltigter Mädchen aufgegriffen, die zum Teil seit Jahren vergeblich darauf warten, dass der mutmaßliche Täter vor Gericht gestellt wird.
Was aber schürt diese Gewalt? Für Jewkes liegt der Schlüssel in den zerrütteten Familien, die Südafrikas Gesellschaft kennzeichnen. Einerseits hat dies historische Wurzeln, die im Herrschaftssystem der Apartheid zu suchen sind. Die Rassentrennung und die erzwungene Wanderarbeit am Kap hat über die Jahrzehnte den sozialen Zusammenhalt in den afrikanischen Gemeinschaften zerschlagen. Viele Kinder wuchsen so ohne den Halt des Vaters oder der Mutter auf, in Zeiten, da der Kampf und die Unterdrückung das Leben bestimmte. "Wer die Liebe und den Schutz der Mutter einbüßt, ist später für Gewalt anfälliger als andere", sagt Jewkes.
Auch die Rolle des Vaters sei von größter Bedeutung, um den Kindern Halt zu geben. "Ohne Vater erscheint die Gefahr größer, in brutale Verhaltensweisen abzugleiten." So setzt sich das Problem von Generation zu Generation fort. Viele Frauen gebären ihre Kinder heute in außerehelichen Beziehungen, aber die Männer fühlen sich für die Sprösslinge nicht verantwortlich und gehen einfach fort - zur nächsten Frau.
Sex aus Frust
Und noch einen Faktor hält die Forscherin für wichtig, er hat mit mangelnden Chancen und den krassen sozialen Gegensätzen zu tun: Weil das Leben vielen Männern oft gar keine Möglichkeit eröffnet, Erfolg und Stärke zu demonstrieren, versuchen sie, ihre Dominanz beim anderen Geschlecht durchzusetzen. Weil sie sich in der Gesellschaft ohnmächtig fühlen, unterdrücken sie Frauen, um sich wenigstens für einen Moment als der große Boss zu fühlen.
Gefühle der Ohnmacht provozieren Aggressionen. Sex mit einer Frau zu haben, signalisiert Kraft - auch und gerade, wenn er erzwungen ist. "Du kriegst, was du willst", sagt Jewkes, "das zeigt, was für ein Kerl du bist." Südafrika müsse Wege finden, "diese Ansichten über Sex zu durchbrechen". Frauen zu überfallen, gelte allzu oft als akzeptabel.
Das Problem beginnt schon in jungen Jahren. 73 Prozent der Männer, die eine Vergewaltigung zugaben, sagten, sie seien dabei jünger als 20 gewesen. Jungen quälen Mädchen. Und eine Familie ist nirgends in Sicht.