Das Unbegreifliche ist: Es hört einfach nicht auf. Am Montag soll eine Deutsche in einem fahrenden Zug vergewaltigt worden sein. Dann eine Dänin in Delhi. Die 51 Jahre alte Frau wurde von mehreren Männern vergewaltigt, als sie nach dem Weg zu ihrem Hotel fragte.
Hier nur ein winziger Ausschnitt aus der indischen Realität: Im April 2013 war es eine Fünfjährige in Madhya Pradesh, die von zwei Männern 48 Stunden lang missbraucht wurde, sie starb am 18. April. Im August wurde eine Siebenjährige tagelang in einer Zugtoilette vergewaltigt, kurz danach machten sich fünf Männer über eine 22 Jahre alte Fotografin in Mumbai her. Im Oktober wurde eine 16-Jährige von einer Gruppe Männer vergewaltigt, sie erstattete Anzeige, wurde aus Rache von derselben Gruppe noch einmal vergewaltigt, ging wieder zur Polizei. Am 23. Dezember zündeten zwei der Täter das Mädchen an.
Das Mädchen starb fast genau ein Jahr nach der 23-Jährigen, die im Dezember 2012 von sechs Männern in einem fahrenden Bus in Delhi vergewaltigt und gepfählt wurde, bis nichts mehr in ihrem Inneren dort war, wo es hingehörte. Als die junge Frau an ihren Verletzungen starb, war Indien erst im Schock. Dann voller Wut.
Tausende gingen auf die Straßen. Es gab Men-Say-No-Blogathons, Stop-Rape-Now-Petitionen und Delhi-Gang-Rape-Rap-Songs, in Busse wurden Sicherheitskameras eingebaut, die staatliche Waffenschmiede entwarf einen leichten Damenrevolver, der in Erinnerung an das Opfer in Delhi "Nirbheek" heißen soll - furchtlos. Studenten, Juristen, Aktivisten, Dalits, Brahmanen, Hausfrauen und Frauenrechtlerinnen gingen gemeinsam auf die Straße und forderten härtere Gesetze und die Todesstrafe für Vergewaltiger.
Es war, als wäre Indien aufgewacht. Als hätten die Menschen endlich verstanden.
Im September wurden unter enormen Sicherheitsvorkehrungen und vor den Augen der Welt vier der Vergewaltiger aus Delhi in einem Schnellverfahren und mit großem Bohei zum Tod verurteilt. Der Vater des Opfers sagte: "Wir sind sehr glücklich."
Nie zuvor war eines ihrer Opfer zur Polizei gegangen
Einen Monat später saßen in einem fast leeren Gerichtssaal in Mumbai die Vergewaltiger der Fotografin und schienen nicht zu verstehen. Die Angeklagten folgten der Debatte mit leeren Gesichtern, als hätten sie gar nicht begriffen, weswegen sie hier sind. Sie machten den Eindruck, als würde der Prozess in einer fremden Sprache geführt. Ein Zeuge sagte: "Sie waren wie ein paar Kinder, die einen Hund gefunden hatten, dem sie ein paar Feuerwerkskörper an den Schwanz gebunden haben, nur um zu sehen, was passiert."
Nie davor sei eines ihrer Opfer zur Polizei gegangen, sagten die Vergewaltiger. Warum also dieses?
Rita Banerji ist politische Aktivistin und eine der bekannten Frauenrechtlerinnen Indiens. Wenn man sie fragt, warum die Vergewaltigungsfälle in Indien nach den Todesurteilen nicht weniger werden, meint man ihr Lachen zu hören. Warum? "Mehr als 30 Prozent der Regierungsangestellten in Indien haben einen kriminellen Hintergrund, Vergewaltigung, Mord, Diebstahl. Wenn Kriminelle regieren, werden sie nicht das System aufräumen."
Rita Banerji ist vieles: Umweltschützerin, Autorin, Fotografin, Frauenrechtlerin. Sie war 18, als sie in die USA ging, und 30, als sie nach Indien zurückkam. Ihr war sofort klar, dass sich etwas ändern muss für die Frauen, die seit Jahrtausenden tun, was eine Frau zu tun hat: Als Kind gehorcht sie dem Vater, als Ehefrau dem Ehemann, als Mutter dem Sohn. Demütig wie die Göttin Sita. 2006 gründet Rita Banerji die "50 Million Missing Campaign". Für sie ist die systematische Auslöschung von Frauen und Mädchen in Indien ein Genozid gemäß der UN-Konvention zum Völkermord. Sie kämpft dafür, dass die UN diesen Genozid offiziell anerkennen. Sie macht sich damit nicht nur Freunde.