Mordfall Lena:"Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich ein Jugendlicher als pädophil outet"

Mit erst 18 Jahren soll er bereits für zwei Sexualdelikte verantwortlich sein: Der Verdächtige im Fall Lena aus Emden leidet vermutlich unter einer pädophilen Störung. Michael Osterheider, Professor für Forensische Psychiatrie, erklärt, warum die Selbstanzeige des jungen Mannes wegen Besitzes von Kinderpornographie ein Alarmsignal war - und wie ihm hätte geholfen werden können.

Johanna Bruckner

Ein 18-Jähriger soll eine Elfjährige missbraucht und ermordet haben: Der Fall Lena schockiert ganz Deutschland, auch weil es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen Jugendlichen handelt. Michael Osterheider ist Professor für Forensische Psychiatrie an der Universität Regensburg und Leiter eines Präventionsprogrammes für Pädophile in Bayern. Im Gespräch erklärt er, in welchem Alter sich die sexuelle Störung entwickelt, was Betroffene tun können - und er gibt Antwort auf die Frage, ob Therapieprojekte bei der Verhinderung von Sexualdelikten an Kindern helfen können.

Süddeutsche.de: Der Verdächtige im Mordfall Emden hat sich ein halbes Jahr vor seinem mutmaßlichen Verbrechen selbst bei der Polizei angezeigt. Wie oft kommt es vor, dass sich so junge Männer als pädophil outen?

Michael Osterheider: Aus der Erfahrung mit unserem Pädophilie-Projekt und anderen Präventionsprogrammen kann ich sagen: Die Betroffenen kommen aus allen Altersgruppen. Bei uns melden sich 15-/16-Jährige, aber auch Männer Mitte 50. Pädophilie ist durch alle sozialen Schichten und Berufsgruppen hindurch zu finden. Es ist nicht so ungewöhnlich, wie man vielleicht zunächst denken würde, dass sich ein Jugendlicher mit pädophilen Neigungen outet.

Süddeutsche.de: Aber kostet es einen Heranwachsenden nicht noch größere Überwindung als einen Erwachsenen, sich zu seiner Pädophilie zu bekennen?

Osterheider: Würde ich nicht sagen, im Gegenteil. Ein Jugendlicher hat noch Entwicklungsperspektiven, auch therapeutisch. Wenn sich jemand mit Mitte 50 meldet, der schon seit 30 Jahren pädophil ist und jetzt einen Übergriff begangen hat, sind die Einflussungsmöglichkeiten dagegen nicht mehr ganz so gut. Im Fall Emden haben wir es mit jemandem zu tun, der offensichtlich gemerkt hat, dass etwas nicht richtig läuft und der sich stellen wollte. Das ist immer ein Alarmsignal, ein Hilferuf. Daraus müssen Konsequenzen erfolgen - was in diesem Fall tragischerweise nicht passiert ist.

Süddeutsche.de: Der Verdächtige soll auch eine Joggerin vergewaltigt haben - wie erklären Sie sich diese mutmaßliche Tat an einer erwachsenen Frau?

Osterheider: Es handelt sich offenbar um einen jungen Mann mit pädophilen Phantasien. Ob der 18-Jährige aber ein klassischer Pädophiler ist, vermag ich aus der Distanz nicht zu beurteilen. Sollte er tatsächlich eine Joggerin angegriffen und sexuell missbraucht haben - die, wie zu lesen war, Ende 20 ist - fällt diese Tat aus dem pädophilen Muster. Es kann durchaus sein, dass wir es hier mit einem Täter zu tun haben, der sowohl pädophile Interessen hat, aber auch ausweichend in anderen Situationen auf ältere Opfer übergreift.

Süddeutsche.de: Wann machen sich pädophile Neigungen bemerkbar?

Osterheider: In der Pubertät. Pädophilie ist eine Körperschema-Orientierungsstörung: Die Betroffenen bleiben am präpubertären Körperschema hängen und kommen davon nicht mehr los. Während es für einen 13-/14-Jährigen noch adäquat ist, ein Mädchen von sieben oder acht Jahren anziehend zu finden, ist dieselbe sexuelle Neigung bei einem 16-/17-Jährigen Anzeichen für eine sexuelle Störung. Spätestens mit Ende der Pubertät merken die Männer meist selbst, dass etwas mit ihnen nicht stimmt. Wichtig ist: Die Betroffenen können nichts für ihre Störung. Pädophilie sucht man sich nicht aus, Pädophilie entwickelt sich. Wir wirken darauf hin, dass sich betroffene Männer ihren Neigungen stellen und Verantwortung übernehmen.

Süddeutsche.de: Wie viele Pädophile gehen den Schritt zur Selbstanzeige?

Osterheider: Pädophilie ist ein vornehmlich männliches Phänomen. Die Häufigkeit der Störung scheint nach neueren Untersuchungen zwischen ein und drei Prozent in der männlichen Bevölkerung zu liegen. Weil es aber keine genauen Zahlen gibt, lässt sich kaum sagen, wie hoch der Prozentsatz derer ist, die sich outen. Aus der Praxis können wir sagen, dass Betroffenen-Hotlines in hohem Maße nachgefragt werden. Unser Projekt in Regensburg haben wir vor anderthalb Jahren gestartet: Seitdem haben uns über hundert Männer kontaktiert. Etwa die Hälfte davon ist mittlerweile in Therapie. Gerade auch in dieser Woche, wegen der Berichterstattung über den Fall Lena, haben wir neue Anfragen bekommen. Wann immer die Tat eines Pädophilen in den Medien ist, melden sich verstärkt Männer, weil sie befürchten, ihnen könnte das Gleiche passieren.

Süddeutsche.de: Werden Männer, die noch nicht straffällig geworden sind und sich bei Ihnen in Therapie begeben, ab diesem Zeitpunkt parallel polizeilich überwacht?

Osterheider: Nein, unsere Projektarbeit ist erst einmal abgekoppelt von den Behörden. Wir sichern den Männern Anonymität zu. Das ist Außenstehenden häufig nur schwer zu vermitteln, aber sehr wichtig, weil wir die Betroffenen mit unserem Angebot sonst nicht erreichen würden. Wenn sich jemand mit pädophilen Neigungen bei uns meldet und sagt: "Ich brauche Hilfe. Ich habe das Gefühl, dass ich die Kontrolle verliere und Sorge, dass ich eine Straftat begehe", dann untersuchen wir denjenigen und führen ein Beratungsgespräch durch. Wenn ein Betroffener erzählt, dass er in der Vergangenheit bereits Delikte begangen hat, ist das erst einmal kein Grund, ihm die Behandlung zu verweigern. Wir sind ja keine Strafverfolgungsbehörde, sondern eine Therapieeinrichtung. Wenn allerdings Gefahr im Verzug ist, können wir die Schweigepflicht in Ausnahmefällen auch aussetzen.

"Durch den Konsum von Kinderpornos entsteht eine Sogwirkung"

Süddeutsche.de: Wie sieht typischerweise die Behandlung eines Pädophilen aus?

Osterheider: Zunächst wird eine ausführliche Lebensanamnese erhoben: Seit wann besteht die Pädophilie? Wie hat sich die Erkrankung entwickelt? Auf Kinder welchen Geschlechts und welchen Alters ist die Störung ausgerichtet? Anschließend behandeln wir die Betroffene mit Gesprächs- und Verhaltenstherapien, gegebenenfalls begleitet von triebdämpfenden Medikamenten - je nachdem, wie ausgeprägt die Störung ist. Die verhaltenstherapeutischen Sitzungen finden in Gruppen statt, mindestens einmal wöchentlich, über einen Zeitraum von etwa einem Jahr. Im Anschluss gibt es noch die Möglichkeit von stützenden Nachsorgeangeboten: Wenn die Männer in Konfliktsituationen kommen, können sie sich bei ihrer Kontaktstelle melden.

Süddeutsche.de: Können pädophil veranlagte Männer, die sich behandeln lassen, irgendwann ein normales Sexualleben führen?

Osterheider: Wenn Sie darunter verstehen, dass gegengeschlechtliche, altersadäquate Beziehungen geführt werden, die sexuell befriedigend sind: Nein, das funktioniert nicht. Pädophilie ist eine lebensbegleitende Störung, die weitgehend unveränderbar ist. Die Neigung als solche bleibt auch unter Therapie bestehen, aber Betroffene lernen dort, Kontakt zu Kindern zu meiden, sich der sexuellen Neigungen im stillen Kämmerlein hinzugeben - und von Kinderpornografie Abstand zu nehmen. Das ist auch ein erklärtes Therapieziel. Wir wissen, dass durch den Konsum von Kinderpornos eine Sogwirkung entsteht: Zunächst befriedigen die Videos die sexuellen Bedürfnisse der Pädophilen. Doch irgendwann - manchmal schon nach Monaten, in anderen Fällen nach Jahren - reicht den Männern die Ersatzbefriedigung nicht mehr. Sie suchen dann die Nähe zu Kindern und werden ihnen gegenüber sexuell übergriffig. Auch der mutmaßliche Täter in Emden hat offenbar intensiv Kinderpornografie genutzt, zur Stimulierung und Anreicherung seiner Vorstellungen. Vermutlich hat er dadurch immer weitere Phantasien entwickelt, die etwas mit dem späteren Delikt zu tun hatten.

Süddeutsche.de: Gibt es deutschlandweit ausreichend Pädophilie-Projekte?

Osterheider: Die Charité in Berlin hat mit "Kein Täter werden" vor fünf Jahren das erste Präventionsprogramm gestartet. Seit anderthalb Jahren gibt es in Regensburg ein vergleichbares Projekt für Bayern. Wir sind zwar noch nicht soweit, dass wir in jedem Bundesland ein entsprechendes Angebot haben. Aber mittlerweile gibt es neben Berlin und Regensburg auch in Kiel, Hamburg und Leipzig Pädophilie-Programme. Es sind also Anlaufstellen für Männer mit entsprechenden Neigungen da, wenn auch der Ausbau des Präventionsnetzwerkes weiter vorangetrieben werden muss. Das ist mir wichtig: Unsere Arbeit ist nicht Täterarbeit im eigentlichen Sinne, sondern Opferprävention. Wir versuchen, mit den Therapieangeboten Übergriffe auf Kinder zu verhindern.

Süddeutsche.de: Wie wirksam sind Pädophilie-Programme im Hinblick auf die Verhinderung von Straftaten?

Osterheider: Entsprechende Therapieprogramme können langfristig Straftaten verhindern - das zeigt das Pädophilie-Projekt an der Berliner Charité. Nachuntersuchungen haben gezeigt, dass die behandelten Männer in hohem Maße stabil blieben und keine Delikte an Kindern und Jugendlichen begangen haben. Die Rückfallquote ist relativ gering.

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