Süddeutsche Zeitung

Sexualmoral der katholischen Kirche:Viele ahnen etwas, keiner redet offen

Ein französischer Autor prangert die Doppelmoral des Vatikans an. Obwohl fast 80 Prozent der Kleriker dort selbst schwul seien, hetzten sie gegen Homosexuelle. So halten sie ein System aufrecht, in der jeder jeden in der Hand hat.

Von Matthias Drobinski

Der Vatikan - eine männerliebende Gemeinschaft, deren oberste Vertreter aber standhaft praktizierte Homosexualität als "irregulär", gar sündhaft beschreiben? Frédéric Martel sieht das so. 80 Prozent der Kleriker im Vatikanstaat seien schwul, habe ihm ein Gesprächspartner versichert, schreibt der französische Journalist und Soziologe.

Es gehe nicht um ein paar schwarze Schafe, "nicht um eine Lobby oder eine dissidente Bewegung: Es ist ein System. Es ist keine kleine Minderheit; es ist die große Mehrheit". Martels Faustregel: Je harscher einer Schwule verdammt, desto eher ist er selber einer; je rigider einer urteilt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Doppelleben führt.

Dass nur jeder fünfte Priester im Vatikan ein Hetero sein soll, ist eine steile These, und vielleicht wird die Papst- und Kirchengeschichte der vergangenen 50 Jahre nicht ganz so sehr dominiert von den sexuellen Vorlieben, Getriebenheiten und Geheimnissen der Handelnden, wie das Martel in seinem (zunächst auf Englisch und Französisch erscheinenden) Buch "Sodoma" beschreibt, das just an diesem Donnerstag in Rom vorgestellt wird, zur Eröffnung der großen Vatikan-Konferenz zum Umgang mit sexualisierter Gewalt.

Das Buch lässt sich aber auch nicht als das Machwerk eines Schwulen-Aktivisten abtun, wie das nun die Konservativen in der Kirche versuchen. Dafür hat Martel viel zu gründlich recherchiert, beschreibt er zu präzise das System, auf das er gestoßen ist. Über die Doppelmoral im Vatikan haben auch schon der deutsche Theologe David Berger und Krzysztof Charamsa, der ehemalige Mitarbeiter der Glaubenskongregation, geschrieben - Martel hat sich der Sache jenseits der eigenen Betroffenheit genähert.

Interviews mit Strichern am Bahnhof Termini

Seit 2015 war der Publizist eine Woche im Monat in Rom und hat dort Dutzende Gespräche geführt - mit ehrwürdigen Kardinälen in ihren so reich wie eigentümlich eingerichteten Appartamenti und mit Strichern am Bahnhof Termini, mit überzeugten Priestern und ehemaligen, die nun ein offen schwules Leben führen.

Immer wieder sei er überrascht gewesen, wie offen er auch mit den höchstrangigen Kardinälen über das Thema habe reden können; immer wieder aber auch erschüttert darüber, in welchem Ausmaß er der Verdrängung, der Heuchelei und den Machtspielen begegnet ist, die es gibt, wenn jeder jeden in der Hand hat, weil Gerüchte im Vatikan so schnell die Runde machten wie nirgendwo sonst. Viele wissen oder ahnen etwas, keiner redet offen - in dieser Atmosphäre ist es auch leicht, Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu verschweigen und zu vertuschen. In einem Kapitel beschreibt der Autor, wie es in Chile dem Militärdiktator Pinochet gelang, sich Teile der katholischen Priesterschaft gefügig zu halten, weil er bei den einen die Homosexualität, bei den anderen den Kindesmissbrauch duldete.

Für Martel entstand dieses System in den Siebzigerjahren unter Papst Paul VI., als das zölibatäre Priesterleben für heterosexuelle Männer zunehmend unattraktiv wurde, für fromme, schwule Katholiken dagegen eine gute Möglichkeit blieb, allen peinlichen Fragen zu entkommen.

Unter Johannes Paul II. gelangten zahlreiche homosexuelle Kirchenmänner an Schaltstellen der Macht, auch in Kardinalsämter; unter Benedikt bildeten sie, so die Analyse des Autors, ein mächtiges Netz, das der Papst weder beherrschen noch zerreißen konnte. Auch die gegenwärtigen Kämpfe zwischen Unterstützern und Gegnern von Papst Franziskus sieht er als Auseinandersetzung zwischen einer konservativ-schwulen Richtung, die sich im alten System der Verschwiegenheit und des Doppellebens eingerichtet hat, und jenen, die genau dieses System der Doppelmoral durchbrechen wollen. Martel sieht sich auf ihrer Seite.

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Quelle:
SZ vom 20.02.2019
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