Es ist eine Zivilklage, die für Aufregung sorgt in den USA, weil sie eine ohnehin unversöhnlich geführte Diskussion auf eine neue Ebene hievt. Die Kernfrage: Was sind die Gründe für die ausufernde Waffengewalt in diesem Land, die vielen Verletzten und Toten? Die einen sagen, dass es zu viele Schusswaffen gebe, Schätzungen zufolge sind es derzeit etwa 466 Millionen. Die anderen suchen nach Eigenschaften beim Täter oder der Täterin, die zur Gewalt geführt haben könnten, sowie nach Lücken im Sicherheitssystem; ihre Argumentation lautet, dass es noch mehr Waffen brauche. Was aber, wenn der Täter ein sechs Jahre altes Kind ist - und nachweislich vorsätzlich gehandelt hat? Wer trägt dann die Verantwortung?
Am 6. Januar schoss ein Grundschüler an der Richneck Elementary School im US-Bundesstaat Virginia auf die Lehrerin Abigail Zwerner und traf sie in der Brust und an der linken Hand. Die Waffe, eine Neun-Millimeter-Pistole, brachte er von daheim mit, die Mutter hatte sie legal erworben. Die Ermittler stellten recht schnell fest, dass der Junge die Tat geplant hatte: Er hatte zwei Tage davor das Handy der Lehrerin zerstört und war deshalb für einen Schultag suspendiert worden. Zwerner informierte die Schulleitung am Tag der Tat, dass der Schüler auffällig aggressiv sei; Mitschüler und drei andere Lehrer bestätigten diese Einschätzung und berichteten zudem, dass der Junge eine Waffe dabei habe. Es passierte trotz der Warnungen nichts, deshalb hat Zwerner, 25, nun Zivilklage gegen die Schulverwaltung eingereicht. Sie fordert Schadensersatz in Höhe von 40 Millionen Dollar.
"Ich werde diesen Gesichtsausdruck nie vergessen, als er mit der Waffe direkt auf mich gezielt hat", sagte Zwerner später. Sie wurde vier Mal operiert und verbrachte zwei Wochen im Krankenhaus - heute gilt sie als Heldin, weil es ihr gelungen ist, etwa 20 Schüler nach den Schüssen in Sicherheit zu bringen, bevor sie ohnmächtig wurde. "Ich verarbeite diesen Tag und versuche, positiv in die Zukunft zu blicken."
Ob es eine Strafanzeige gegen die Eltern gibt, ist alles andere als sicher
Am 6. März verkündete Chefermittler Howard Gwynn, dass es keine Strafanzeige gegen den Täter geben werde, weil ein Sechsjähriger nicht in der Lage sei, einem Strafprozess dieses Ausmaßes überhaupt zu folgen. Er behalte sich allerdings vor, Anzeige gegen die Eltern zu erheben. Deren Anwalt sagte, dass sie ihre Waffen stets sicher verstaut hätten und sich nicht erklären könnten, wie ihr Sohn an die Pistole gelangt sei. Bislang gibt es keine Anzeige. Laut Experten dürfte es schwierig sein, Geschworene in einem Strafprozess zweifelsfrei von der Schuld der Eltern zu überzeugen.
Gut möglich, dass es deshalb diese Zivilklage gibt, die Beweislage ist nicht so streng wie in einem Strafprozess, und dass sie sich auf die Schulverwaltung konzentriert. Laut Klageschrift ist der Junge bereits lange vor diesen Schüssen auffällig geworden. Im Kindergarten habe er eine Erzieherin "gepackt und gewürgt" sowie ein Mädchen unter deren Rock berührt. In der Grundschule habe er Lehrer und Mitarbeiter beleidigt und auf dem Spielplatz seine Mitschüler gejagt mit dem Ziel, sie "mit einem Gürtel zu verhauen". Seine Eltern hatten sich offenbar dagegen gewehrt, dass ihr Sohn mit anderen verhaltensauffälligen Kindern unterrichtet wird; die Schulleitung sei dieser Forderung nachgekommen, nach Gesprächen im Rektorat sei der Junge oft "mit einer Art Belohnung wie Süßigkeiten" ins Klassenzimmer zurückgekehrt.
"Alle wussten, dass der Junge sowohl Schüler als auch Lehrer angriff mit dem Ziel, jeden zu verletzen, der sich ihm in den Weg stellt", sagt Zwerners Anwältin Diane Toscano. Auch am Tag der Tat habe es genügend Hinweise gegeben, dass etwas Schlimmes passieren könnte: "Die Schulverwaltung hatte eine Verpflichtung gegenüber Abigail an diesem Tag - aber sie hat kläglich versagt."