In 90 Prozent der Fälle hält Candice Jackson die Geschichte für aufgebauscht, verfälscht dargestellt oder schlicht gelogen. In 90 Prozent der Fälle glaubt sie den Frauen nicht, die ausgesagt haben, sie seien an einer US-Universität sexuell missbraucht worden. In 90 Prozent der Fälle, sagt Jackson, seien die Täter zu Unrecht angeklagt worden.
Candice Jackson, das macht die Sache pikant, ist aber nicht irgendeine Antifeministin, sie leitet die Abteilung für Bürgerrechte im US-Bildungsministerium und ist damit in der Trump-Regierung eine der wichtigsten Ansprechpartnerinnen, wenn es um Fragen der Diskriminierung geht. In einem Interview mit der New York Times wurde jetzt deutlich, wie sie ihr Amt versteht.
"90 Prozent der Anschuldigungen", sagte sie also, fielen in die Kategorie: "Wir haben Schluss gemacht und sechs Monate später sehe ich mich einer Title-IX-Untersuchung gegenüber, weil sie beschlossen hat, dass beim letzten Mal, als wir miteinander geschlafen haben, etwas nicht ganz richtig lief."
"Title IX" bezieht sich auf den bekanntesten Paragrafen in einem 1972 erlassenen US-Gesetz, den sogenannten Education Amendments. Dieses Gesetz soll Menschen in staatlich bezuschussten Bildungseinrichtungen vor Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts schützen. Ex-Präsident Barack Obama hatte sich dafür eingesetzt, dass solche Schulen, Colleges und Universitäten sexuelle Übergriffe stärker verfolgen müssen. 2011 verschickte seine Regierung eine 19-seitige Direktive, bekannt heute als Dear Colleague Letter, die neben einer Richtlinie zum Umgang mit mutmaßlichen sexuellen Übergriffen auch eine explizite Warnung enthielt: Haltet euch an unsere Vorgabe oder wir entziehen euch die Förderung.
Durchschnittliche Bearbeitungszeit: 703 Tage
Der Druck von höchster Stelle veränderte die Zahlen: Während im Office of Civil Rights - eben jener Abteilung, der heute Candice Jackson vorsteht - im Mai 2014 lediglich 55 Fälle zur Überprüfung lagen, waren es im Juli dieses Jahres 344. Die durchschnittliche Bearbeitungszeit liegt bei 703 Tagen. Eine lange Zeit für Betroffene und Beschuldigte. Und ob die Direktive inhaltlich das erreicht, was sie erreichen sollte, darüber streiten Politiker, Aktivisten und Verantwortliche in den Bildungseinrichtungen erbittert.
Kritiker sagen, die Richtlinie schieße in dem berechtigten Bemühen, Opfer sexueller Gewalt zu stärken, übers Ziel hinaus. Während vormals die Betroffenen kaum darauf hoffen durften, dass ihre Peiniger belangt werden, würden Studenten nun zu leichtfertig bestraft - bis hin zum Ausschluss aus der Universität. Mitglieder der renommierten Harvard Law School beklagten 2014 in einem offenen Brief, der Umgang der Hochschule mit Fällen von mutmaßlicher sexueller Gewalt widerspreche fundamental rechtsstaatlichen Prinzipien. Wie andere Institutionen hatte die Ivy-League-Uni auf Grundlage des Obama-Briefes eine eigene Richtlinie erlassen. Manche Rechtsexperten sehen darin das eigentliche Problem, weil die Universitäten in ihren Richtlinien mitunter über die Maßgabe des Präsidenten hinausgehen.
Bildungsministerin Betsy DeVos - die Chefin von Candice Jackson - will diese Entwicklung augenscheinlich zurückdrehen. Anfang Februar bei ihrer Anhörung im Senat, wo sie nur mit äußerst knapper Mehrheit als Ministerin bestätigt wurde, ließ sie die Frage, ob sie die Richtlinie der Obama-Regierung aufrechterhalten werde, bewusst offen. Kürzlich haben 52 Kongressmitglieder in einem Brief an DeVos appelliert, die Direktive beizubehalten - auch Republikaner waren unter den Unterzeichnern.
Doch Präsident Trump und seine Minister ziehen es vor, Projekte der Vorgängerregierung lieber komplett abzuwickeln, als sie in ihrem Sinne zu reformieren. Das hat sich schon bei der Gesundheitsreform gezeigt, auch wenn Trump damit vorläufig gescheitert ist.
Bildungsministerin DeVos dürfte im Zweifelsfall versuchen, ihre Agenda durchzudrücken. Das befürchten Organisationen, die sich für die Rechte von Opfern sexueller Gewalt einsetzen. So könnten zum Beispiel die sogenannten Nondisclosure Agreements wiedereingeführt werden. Vor 2011 war es durchaus üblich, dass die Betroffenen sexueller Gewalt mit den Bildungseinrichtungen einen Vertrag abschlossen. Darin war festgelegt, dass die Opfer nicht über das Geschehene sprechen dürften.