Süddeutsche Zeitung

Coronavirus in den USA:Wider die Natur

Lesezeit: 4 min

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Dieser Anblick ist so gespenstisch, weil er so schön ist. Die Sonne versinkt im Pazifik und bietet ein fantastisches, orange-rot-lila-blaues Farbenspiel am kalifornischen Himmel. Der Pazifik schimmert dunkelblau mit grauen Tupfern von Delfinen, der Wind sorgt für ein paar Wellen und dieses einzigartige Geräusch: wffff-pchchchc, wffff-pchchchc, wffff-pchchchc. Der Sand ist hellbraun, fein und glatt, nur ein paar Möwen haben Fußspuren in ihm hinterlassen. Herrlich, weil kein Mensch diesen Anblick stört, doch genau das macht ihn gespenstisch: Seit Freitagabend sind die meisten Strände in Südkalifornien gesperrt und mit ihnen alle 28 kalifornischen Nationalparks und Gedenkstätten des National Park Service.

Das klingt wie ein Luxusproblem angesichts einer weltweiten Pandemie, viele Menschen müssen derzeit erhebliche Einschränkungen in ihrem Alltag hinnehmen. In Kalifornien ist das nicht anders, es ist nur so: Los Angeles gleicht einem Betonklotz auf einer Wiese am Wasser. Die Bewohner gelangen in Blechkisten auf stets verstopften Asphaltwegen zueinander, und normalerweise macht ihnen das nichts aus. Sie können ja jederzeit zum Strand oder in Nationalparks wie Yosemite, Joshua Tree oder Sequoia, die ja auch deshalb so schön sind, weil man nicht andauernd anderen Leuten begegnet. Man umarmt 100 Meter hohe Bäume und keine Mitmenschen.

Warum nur sind aber all jene Orte gesperrt, an denen man Abstand halten könnte? Mitte März hatte die Bundesregierung noch angeordnet, keinen Eintritt mehr von den Besuchern zu verlangen. "Das ist ein kleiner Schritt, damit die Leute unsere unglaubliche Natur genießen können", hatte Innenminister David Bernhardt gesagt und damit die Botschaft vermittelt: Geht raus, liebe Leute - und genau das taten viele Kalifornier, die ohnehin nichts anderes zu tun hatten; Gouverneur Gavin Newsom hatte ihnen Daheimbleiben empfohlen.

Sie fuhren zu Devils Postpile, Kings Canyon und auch ins Death Valley . Die Blechkisten ließen sie irgendwo stehen, weil es bald keine freien Parkplätze mehr gab. Sie überfüllten Rastanlagen und Toiletten, ihren Abfall warfen sie ins Gras, weil die Mülleimer voll waren. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass die Menschen wie Heuschrecken über Nationalparks und Strände hergefallen sind. Sie feierten Partys, und das taten sie auch an diesem Wochenende, bis es am Sonntag in Kalifornien hieß: Schluss damit!

Die Ankündigung liest sich ein bisschen wie eine Wer-nicht-hören-will-muss-fühlen-Erklärung für Erstklässler: "Ärzte empfehlen, dass sich die Bevölkerung an der frischen Luft bewegen soll. Wer es allerdings nicht schafft, den nötigen Abstand zu den Mitmenschen zu halten, muss die Parks verlassen. Jeder ist dafür verantwortlich, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen - und dazu gehört es nun mal, keine Ansammlungen in der Öffentlichkeit abzuhalten." Newsom hatte davor bereits an den gesunden Menschenverstand appelliert: "Wer einen vollen Parkplatz sieht, der sollte weiterfahren oder vielleicht sogar umkehren."

Kalifornien ist nicht der einzige Bundesstaat, der seine Nationalparks geschlossen hat - Utah und Montana haben am Freitag ihre Parks gesperrt, andere wie zum Beispiel Yellowstone oder Great Smoky Mountains sind es schon länger, und das führt nun zu einer erbitterten Debatte zwischen Bundesregierung und den Verantwortlichen vor Ort.

US-Präsident Donald Trump will die ganze Coronavirus-Sache möglichst schnell beenden, zumindest verkündet er das bei jeder Gelegenheit. Eine landesweite Schließung wäre allerdings ein Hinweis darauf, dass alles doch nicht so prima läuft, wie Trump es verkauft. Deshalb ist auf der Webseite des National Park Service noch immer zu lesen, dass die Parks geöffnet seien. Man könne nur zu Fuß hinein und solle eben Abstand halten. Es liest sich wie eine Schlechtwettermeldung und nicht wie eine Pandemie.

"Ich wäre überrascht, wenn Trump jemals in einem Nationalpark gewesen wäre - ich glaube noch nicht einmal, dass er weiß, was ein Nationalpark überhaupt ist", sagte Dustin Stone zur Washington Post. Er hatte im Klondike Gold Rush National Historical Park in Alaska gearbeitet und in der vergangenen Woche aus Protest gekündigt: "Es ist ein politisches Spiel, bei dem mit dem Leben von Menschen gezockt wird. Präsident Trump ist derjenige, der verkündet hat, dass die Leute keinen Eintritt bezahlen müssen." Er habe Leute in Gefahr gebracht, weil er einen politischen Erfolg habe verbuchen wollen.

Das Problem, das nun zahlreiche Experten anmerken: Die Parks selbst mögen weitläufig sein, die Trampelpfade, auf den die Menschen wandern, sind es nicht. Sie begegnen sich dort, und wenn sie von diesen Wegen abkommen, dann müssen sie sich im unwegsamen Gelände oft gegenseitig helfen. Sie reichen sich Hände, um gemeinsam über einen Steilhang zu klettern, sie fangen einander auf, wenn jemand abrutscht; im schlimmsten Fall müssen sie gerettet werden. Ein Ranger im Grand Canyon hatte in der vergangenen Woche deshalb Kontakt zu mindestens 600 Personen. Er wurde mittlerweile positiv auf den Coronavirus getestet.

Der Grand Canyon National Park ist noch immer offen, obwohl sich die Verantwortlichen vor Ort für eine Schließung ausgesprochen haben. Die National Parks Conservation Association nennt die Entscheidung der Bundesregierung "mehr als rücksichtslos". Theresa Pierno, Chefin des Non-Profits, das sich für den Erhalt von Nationalparks einsetzt, sagt: "Es ist nicht möglich, dort ausreichend Abstand zu halten - und wenn jemand so weitermacht wie bisher, dann gibt er den Leuten ein unberechtigtes Gefühl der Sicherheit und bringt sie damit in große Gefahr." Es ist eine direkte Botschaft an Trump, der sich auf Twitter allerdings über die tollen Einschaltquoten wegen des Virus freut. Es ist deshalb fraglich, ob diese Botschaft jemals ankommt.

Knapp 200 der 409 nationalen Schutzgebiete sind mittlerweile auf Anordnung der jeweiligen Bundesstaaten geschlossen, wobei in dieser Liste nicht nur Parks, sondern auch Sehenswürdigkeiten und Gedenkstätten wie die Freiheitsstatue oder das Washington Monument geführt werden. Weil der Appell an den Menschenverstand nicht funktioniert, gibt es nun teils drastische Strafen: Am Wochenende wollte ein Surfer in Südkalifornien diesen wunderbaren Anblick und die Wellen ganz für sich alleine genießen. Er wurde erwischt und muss nun 1000 Dollar bezahlen.

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