Süddeutsche Zeitung

Missbrauch bei den "Boy Scouts":"Wir werden diesen Schmerz nicht heilen können"

Der Missbrauchsskandal bei den Boy Scouts of America hat erschreckende Ausmaße, 92 700 mutmaßliche Opfer haben sich gemeldet. Die potenzielle Entschädigungssumme dürfte in die Billionen gehen - und der Ruf der Organisation ist nachhaltig ruiniert.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wenn die US-Amerikaner jemanden einen Boy Scout nennen, dann sprechen sie von einem integren Menschen. Das geht gar so weit, dass der Begriff als Schimpfwort verwendet wird, weil er ausdrückt, dass man mit so einem fehlerlosen Wesen nicht mal einen Kaugummi klauen könne. Ein bisschen so wie der "Gutmensch" im Deutschen. Angesichts dieses Rufs der Pfadfindervereinigung ist es umso erschreckender, was sich jahrzehntelang unter ihrem Dach abgespielt hat: 92 700 Betroffene haben angegeben, bei den Boy Scouts of America (BSA) sexuell missbraucht worden zu sein. Schon Anfang der Woche war von mehr als 80 000 möglichen Opfern die Rede gewesen, laut Gerichtsakten sind es aber noch viel mehr als befürchtet.

"Wir sind am Boden zerstört, wie viele Leben durch den Missbrauch beeinträchtigt worden sind; wir werden diesen Schmerz nicht heilen können", heißt es in einem Statement der Pfadfindervereinigung: "Wir bewundern den Mut aller, die sich geäußert haben." Diese Zahlen sind ans Licht gekommen, weil BSA im Februar aufgrund Hunderter Klagen wegen sexueller Nötigung Gläubigerschutz beantragt hatte und das Gericht wissen wollte, was denn da an Entschädigungszahlungen auf die Vereinigung zukommen könnte, die es seit 110 Jahren gibt und die stolz auf die Ausbildung von Präsidenten (John F. Kennedy), Astronauten (Neil Armstrong) und Bürgerrechtlern (Ernest Green) ist.

Als Richtwert für jeden einzelnen Betroffenen sollten jene 18,5 Millionen Dollar dienen, die der Oberste Gerichtshof des US-Bundesstaates Oregon im Jahr 2010 einem Missbrauchsopfer der BSA zugesprochen hatte. Die mögliche Gesamtsumme sollte dann mit dem Vermögen der Vereinigung verrechnet und so geprüft werden, ob der Antrag auf Gläubigerschutz möglich ist und BSA nach der Aufarbeitung aller Skandale und Zahlung aller Forderungen eine Chance hat, weiterhin zu existieren. Das ist angesichts der enormen Zahl mutmaßlicher Opfer nun keineswegs gewiss.

Das Vermögen von BSA wird auf eine Höhe von irgendetwas zwischen einer und zehn Milliarden Dollar geschätzt. Die Zahl ist deshalb so ungenau, weil es zwar real existierende Besitztümer wie etwa Grundstücke gibt, der Wert des Unternehmens allerdings eng mit dem Wert der Marke verbunden ist. Eine Vereinigung, die für Integrität steht und der Millionen US-Amerikaner vertrauen, ist viel mehr wert als eine, die nun im Verdacht steht, sexuellen Missbrauch nicht nur geduldet, sondern womöglich als System gefördert zu haben.

Auch aus Deutschland werden Missbrauchsfälle gemeldet

In den 1970ern hatten die Vereinigung fünf Millionen Mitglieder, derzeit sind es nur noch 2,2 Millionen. Es heißt, dass seit der Gründung im Jahr 1910 mehr als 130 Millionen US-Amerikaner irgendwann mal Boy Scouts gewesen sind. Nun gibt es Klagen aus allen 50 Bundesstaaten, es soll auch auf Militärstützpunkten in Deutschland zu Fällen von Missbrauch gekommen sein.

"Nach allem, was wir von den Opfern gehört haben, war sexueller Missbrauch ein Ritual bei den Boy Scouts", sagt Anwalt Andrew Van Arsdale von "Abused in Scouting", einem Zusammenschluss der Vertreter mutmaßlicher Opfer: "Er war Teil der Aufgaben, die Kinder erledigen mussten." Es gibt bei den Boy Scouts ein System an derzeit 137 Abzeichen, das von sportlichen Leistungen über Kenntnisse in Archäologie, Videospiel-Design und Klempnerei bis hin zu subjektiven moralischen Bewertungen reicht - wie etwa, ob jemand ein guter Familienmensch sei. Van Arsdale zufolge ist es in diesem Belohnungs- und Bewertungssystem eine "ungeschriebene Norm" gewesen, Kuscheln, Betrachten von Pornografie und Oralsex als legitime Abkürzung zum Erhalten von Abzeichen zu betrachten.

Verlängerte Verjährungsfrist für sexuellen Missbrauch

Gerüchte über Missbrauch bei BSA gibt es seit Jahrzehnten, berühmt ist mittlerweile ein Artikel in der New York Times aus dem Jahr 1935, der eine "Rote Liste" beschreibt, auf der die Vereinigung jene Ausbilder setzte, bei denen sie Fehlverhalten vermutete. Der aktuelle Skandal nahm im Februar 2019 seinen Anfang, als New Yorks Gouverneur Andrew Cuomo die Verjährung von sexuellem Missbrauch bei Zivilklagen um 32 Jahre verlängerte. Opfer können demnach bis zum Alter von 55 Jahren (vorher: 23) Klage einreichen, wenn sie als Kinder und Jugendliche missbraucht worden sind.

Die New York Times etwa berichtet von Frank Spinelli, der von 1978 an, er war da elf Jahre alt, drei Jahre lang missbraucht worden war. Der Täter sei ins Gefängnis gekommen, allerdings konnte Spinelli, heute 53 Jahre alt, wegen der Verjährungsfrist nichts gegen BSA selbst unternehmen.

Das änderte sich mit den Gesetzesverschärfungen in vielen US-Bundesstaaten, und deshalb hat BSA im Februar Gläubigerschutz beantragt. Die einzelnen Forderungen und Gerichtsprozesse sind damit erst einmal auf Eis gelegt worden, der Richter verordnete eine Frist bis diesen Montag. Bis dahin konnten sich alle melden, die glauben, missbraucht worden zu sein, und nun gibt es diese erschreckend hohe Zahl an möglichen Opfern, die, legt man tatsächlich die 18,5 Millionen Dollar als Richtwert an, eine Gesamtsumme von 1,714 Billionen Dollar Schadenersatz ergäben.

So weit dürfte es nicht kommen, und viele mutmaßliche Opfer haben bereits erklärt, dass es ihnen bei den Klagen nicht ums Geld geht, sondern darum, den Opfern eine Plattform zu bieten, der Öffentlichkeit das Ausmaß des Missbrauchs darzulegen und damit für wirkliche Veränderungen zu sorgen - und BSA kein Freikaufen zu ermöglichen. "Ich glaube daran, dass die unbequemen Gespräche nötig sind, um einen Weg finden zu können, wie es weitergehen könnte", sagt Missbrauchsopfer Frank Spinelli in der New York Times.

Die Zahl der mutmaßlichen Opfer sei "herzzerreißend", schreiben die Boy Scouts

BSA hatte sich den Sommer über in einer Werbekampagne dafür eingesetzt, dass sich möglichst viele mutmaßliche Opfer melden, das Ergebnis sei "herzzerreißend", heißt es in einem Statement.

Angesichts der riesigen Zahl möglicher Opfer ist derzeit nicht abzusehen, wie es weitergehen wird. Jeder einzelne Fall muss nun überprüft werden. "Sie haben Millionen Dollar dafür ausgegeben, zu werben, dass Opfer sich melden und entschädigt werden können", sagt Anwalt Van Arsdale: "Es wird sich nun zeigen, ob sie das Versprechen werden einhalten können."

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