Süddeutsche Zeitung

Verschärfte Gesetzgebung in den USA:Das Ringen um den ersten Herzschlag

  • Georgia ist einer von sieben US-Bundesstaaten, die allein in diesem Jahr ein sogenanntes Herzschlag-Gesetz verabschiedet haben.
  • Das Gesetz verbietet Abtreibungen meist ab der sechsten Woche einer Schwangerschaft, ab der sich bei einem Embryo ein Herzschlag feststellen lässt.
  • Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner sind allerdings der Ansicht, Abtreibungen sollten grundsätzlich erlaubt, aber mit Auflagen verbunden sein.

Von Alan Cassidy, Macon

Das Hellblau soll beruhigen, sagt Ann Beall, als sie durch ihre Praxis führt. Hellblau die Wände, an der die Kruzifixe und die Madonnen-Porträts hängen, hellblau die Blumen, die beim Empfang stehen, hellblau die Formulare, die dort aufliegen. "Gezeugt durch eine Vergewaltigung - eine Geschichte der Hoffnung", steht auf den Broschüren auf der Theke. In einem Korb liegen Anstecknadeln zum Verkauf, sie haben laut der dazugehörigen Tafel "die exakte Form und Größe der Füße eines ungeborenen Babys in der zehnten Schwangerschaftswoche".

Beall leitet das St. Maximilian Kolbe Center for Life, eine von einer katholischen Stiftung getragene Gesundheitspraxis in Macon, im ländlichen Teil von Georgia. Die Praxis nennt sich "Zentrum für Krisenschwangerschaften". Das ist die bei amerikanischen Abtreibungsgegnern geläufige Bezeichnung für Organisationen, die Frauen davon abhalten wollen, ihre Schwangerschaft abzubrechen. Je nach Schätzung gibt es in den USA zwischen 2300 und 3500 solcher Zentren. Es ist ein später Nachmittag im Juni, die letzte Patientin ist eben gegangen, und Beall, 50 Jahre alt, rosa Strickjacke über blauem Kleid, Perlmuttkette, nimmt sich Zeit für einen Rundgang.

Sie zeigt das Ultraschallgerät, mit dem sich Frauen kostenlos untersuchen lassen können. Sie zeigt die Kinderkleider und Windeln, mit denen sich Frauen eindecken können, und die Regale mit Baby-Ratgebern. Sie bleibt stehen vor einem Set von Plastikmodellen, das einen Fötus in den verschiedenen Phasen der Schwangerschaft darstellt. "Hier, schauen Sie, schon in der siebten Woche erkennt man so viele Details!" Dann setzt sich Beall, die selber dreifache Mutter ist, in ihr Büro und erzählt von ihrer Mission: alle Frauen umzustimmen, die sich mit dem Gedanken tragen, ihre Schwangerschaft abzubrechen - "ihr Kind zu töten", wie sie es nennt.

Georgia ist einer von sieben US-Bundesstaaten, die allein in diesem Jahr ein sogenanntes Herzschlag-Gesetz verabschiedet haben. Es verbietet Abtreibungen meist ab der sechsten Woche einer Schwangerschaft, ab jenem Zeitpunkt also, an dem sich bei einem Embryo ein Herzschlag feststellen lässt. Viele Frauen wissen in diesem Moment noch gar nicht, dass sie schwanger sind. Ausnahmen sind lediglich für Vergewaltigungen und Inzest vorgesehen oder für den Fall, dass das Leben der Mutter bedroht ist. Möglichst keine Abtreibungen: Das ist das erklärte Ziel der Republikaner, die die Verschärfung durch das Parlament peitschten - gegen den Protest von Frauenrechtsgruppen, gegen den Protest der in Georgia wichtigen Filmindustrie.

Möglichst keine Abtreibungen: Das ist auch das Ziel von Beall. "Es gibt immer eine bessere Alternative", sagt sie. Damit das auch die Frauen so sehen, die schwanger zu ihr kommen, unternimmt Beall einiges. Sie organisiert ärztliche Betreuung, vermittelt Unterstützung im Haushalt, Kinderbetreuung. Die Gegend rund um Macon ist arm; die Frauen, die sich an Beall wenden, sind mehrheitlich schwarz, oft kommen sie aus zerrütteten Familien. "Viele von ihnen haben bereits Kinder, wenn sie schwanger zu uns kommen. Sie sind verzweifelt, weil sie nicht wissen, wie sie ein weiteres Kind durchbringen sollen. Wir zeigen ihnen, dass es möglich ist." Beall nennt die Frauen "my moms", meine Mütter.

Logistische Hilfe also - und Gespräche. Beall redet sanft, im Singsang der Südstaaten, aber in der Sache ist sie hart. Nein, es gebe keinen Grund, der eine Abtreibung rechtfertige, auch nicht eine Vergewaltigung. "Wer wird denn damit bestraft?", fragt sie. "Das Baby im Mutterleib. Natürlich ist es schrecklich, wenn ein Kind auf diese Weise empfangen wird. Aber das Kind trifft keine Schuld." Was ist mit dem Recht jeder Frau, über ihren eigenen Körper zu bestimmen? "Wenn man einmal schwanger ist, ist da eben auch ein anderer Mensch da drin. Ein Mensch, der ebenso Schutz verdient", sagt sie. Die meisten Frauen spürten dies. "Ein Drittel meiner Mütter hat bereits eine Abtreibung hinter sich. Die Schuldgefühle lassen sie auch Jahre später nicht los."

Die meisten Amerikanerinnen und Amerikaner denken über Abtreibungen anders als Beall. In den Umfragen des Gallup-Instituts zeigt sich: Nur knapp jeder Fünfte spricht sich dafür aus, Abtreibungen grundsätzlich zu verbieten. Knapp 30 Prozent finden, Abtreibungen sollten in jedem Fall legal sein. Eine relative Mehrheit von 50 Prozent ist der Ansicht, Abtreibungen sollten grundsätzlich erlaubt, aber mit Auflagen verbunden sein, etwa, indem sie auf die ersten drei Monate einer Schwangerschaft beschränkt bleiben. Trotzdem sind es derzeit die radikalen Abtreibungsgegner, die den Ton der Debatte setzen - und die in den Südstaaten reihenweise gesetzliche Verschärfungen durchbringen.

Vielen Frauen bleibt nur der Weg nach Atlanta, wo es noch Abtreibungskliniken gibt

Ein Büro im Parlamentsgebäude von Atlanta, der Hauptstadt von Georgia. Auf dem Sofa sitzt Cole Muzio, 30 Jahre, hellgrauer Anzug, kräftige Statur. Muzio ist Direktor der Family Policy Alliance, einer christlich-konservativen Lobbyorganisation, die in 40 Bundesstaaten vertreten ist. Sie unterstützt und finanziert Politiker, die ihre Anliegen vertreten - Politiker wie Brian Kemp, der vergangenes Jahr zum Gouverneur von Georgia gewählt wurde. Außerhalb des Bundesstaats kannte man den Republikaner aus seinen Wahlkampfspots, die ihn in seinem Garten zeigten, während hinter ihm etwas explodierte. Kemps Kommentar: "Ich bin so konservativ, dass ich die Regierung in die Luft sprengen will." Muzio und seine Organisation sahen im Kandidaten Kemp etwas anderes: jenen Mann, der als Gouverneur ein scharfes Abtreibungsgesetz nicht mehr blockieren, sondern begeistert durchwinken würde. Nach Kemps Wahl arbeitete der Lobbyist in dessen Übergangsteam, in der Beratung des Gesetzes durfte er vor einem Parlamentsausschuss als Experte auftreten. Die entscheidende Abstimmung verfolgte er im Konferenzraum des Gouverneurs.

"Er war in dieser Sache wie ein Fels für uns", sagt Muzio. "Abtreibungen sind eine der großen Sünden unserer Zeit. Ich bin stolz, dass wir in Georgia etwas dagegen unternehmen." Die Allianz zwischen republikanischen Politikern und religiösen Lobbyorganisationen besteht schon lange, aber seit der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten hat sie neuen Schub erhalten. Das hat vor allem damit zu tun, dass Trump reihenweise konservative Bundesrichter ernannt hat, bis hinauf an den Obersten Gerichtshof, an dem die Konservativen seit der Wahl des Juristen Brett Kavanaugh eine Mehrheit halten. Diese Mehrheit, so die Hoffnung der Abtreibungsgegner, soll bald das verhasste Grundsatzurteil von 1973 kippen, mit dem der Schwangerschaftsabbruch bis zur 24. Woche legalisiert worden war. Um ein neues Urteil zu erzwingen, verabschieden sie möglichst viele Gesetze wie in Georgia, Alabama oder Louisiana, die offensichtlich dagegen verstoßen.

"Die Linken sagten uns lange, dass alles vor der 24. Woche bloß ein Zellklumpen sei"

Auf den unteren Stufen haben die Auseinandersetzungen vor Gericht schon begonnen. Die Abtreibungsgegner argumentieren dabei gerne mit der Wissenschaft. "Die Linken sagten uns lange, dass alles vor der 24. Woche bloß ein Zellklumpen sei", sagt Muzio. Der technologische Fortschritt habe aber vielen Leuten die Augen dafür geöffnet, wie früh da schon ein Mensch heranwachse. "Das kann jeder bestätigen, der schon einmal das Schlagen eines Baby-Herzens gehört hat." Die Organisation Planned Parenthood, die sich für das Recht auf Abtreibung einsetzt, kritisiert dieses Argument: In der sechsten Schwangerschaftswoche sei da noch gar kein Herz, das schlagen könne. Mit dem Begriff setzten Abtreibungsgegner bewusst ein falsches Bild in den Umlauf.

Auch im Kolbe Center haben sie gefeiert, als das Gesetz verabschiedet wurde. Doch den Kampf gegen die Abtreibung hatte Ann Beall schon vorher in die eigene Hand genommen. Vor einem Jahr erfuhr sie, dass ein Unternehmen in Macon eine Gesundheitspraxis eröffnen wollte, die auch Abtreibungen anbietet. "Eine Abtreibungsklinik vor unserer Haustür", sagt sie, "das konnten wir nicht akzeptieren." Obwohl die Baupläne von der Stadt bereits genehmigt waren, organisierte Beall mit Mitstreitern aus der christlichen Gemeinde Proteste und Mahnwachen vor dem leer stehenden Haus, in das die Klinik einziehen wollte. Nach einigen Wochen zog sich das Unternehmen zurück, und dem Stiftungsratspräsidenten des Kolbe Center gelang es, das Haus aus eigener Tasche zu kaufen. Schon bald wird Beall ihre Praxis in das neue Domizil umziehen.

Es ist ein Sieg für Beall. Und es ist ein Rückschlag für all jene Frauen in der Gegend, die zu einem Schwangerschaftsabbruch keine Alternative sehen. Ihnen bleibt nur die Fahrt nach Atlanta, wo es noch Abtreibungskliniken gibt, oder in einen anderen Bundesstaat, wo die Regeln liberaler sind. Zumindest, solange nicht der Supreme Court das Recht auf Abtreibung überall einschränkt. Und das ist wahrscheinlicher denn je.

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SZ vom 03.07.2019/ick
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