US-Wahlkampf mit der Sesamstraße:Big Birds Seele

Lesezeit: 3 min

Der große gelbe Vogel aus der Sesamstraße spielt gerade eine Hauptrolle im US-Wahlkampf. Gespielt wird die Puppe seit mehr als 40 Jahren von Caroll Spinney. Der Sohn eines Uhrmachers hat sich Monstern verschrieben, die Schränke essen. Und Echsen, die Buchstaben verkaufen - und schuf damit klug-anarchisches Kinderfernsehen.

Martin Zips

Es ist ein Jahr her, da rief der amerikanische Showmaster Jimmy Kimmel seine Zuschauer dazu auf, ihm Videos zu mailen. Eltern sollten ihrem Nachwuchs mitteilen, dass sie die beliebten Halloween-Candys bereits gegessen hätten und die Reaktion der Kinder filmen. Die Videos mit heulenden, tobenden, enttäuschten Winzlingen wurden später in Kimmels Show gezeigt und liefen auch auf YouTube recht erfolgreich.

Vor ein paar Jahren noch hätte derlei womöglich zu einer breiten gesellschaftlichen Debatte geführt. Darf man Kindern etwas - und seien es nur Halloween-Candys - nur mal so zum Spaß wegnehmen, und sie anschließend heulend einem Millionenpublikum vorführen? Doch wenn man die Kommentare zu den Videos im Internet liest, so stellt man fest: Heute geht das für die meisten voll in Ordnung.

Gerade ist die amerikanische Politik dabei, etwas sehr Unschuldigem seine Würde zu rauben. Nach Mitt Romneys Ankündigung, dem Sesamstraßen-Sender PBS alle staatlichen Subventionen streichen zu wollen, werden die Republikaner von den Demokraten als Puppenmörder dargestellt. Vor allem Kinderfreund Big Bird, der große gelbe Sesamstraßen-Vogel, der in Deutschland Bibo heißt, muss für diverse Kampagnen herhalten.

Im Sinne von Caroll Spinney, 78, der seit mehr als 40 Jahren Big Bird bewegt, ist das nicht. Muppet-Vater Jim Henson hatte den zurückhaltenden Mann einst auf einem Festival entdeckt und ins Team geholt. Vielleicht ganz gut, dass Henson sich damals für Spinney entschied und nicht für den völlig verpfuschten Mickey Sabbath, welcher zumindest im Roman "Sabbaths Theater" von Philip Roth als (rein fiktive) Alternative zu Spinney genannt wird. Nein, Spinney ist heute noch der bestmögliche Darsteller des gelben Vogels, einer Figur, die groß ist wie ein Erwachsener, aber sensibel wie ein Kind. Vor 22 Jahren war er auf der Beerdigungsfeier von Jim Henson, dessen Bedeutung für das Puppenspiel Spinney einmal mit der Bedeutung der Beatles für die Popmusik verglichen hatte, ins Federkostüm geschlüpft. Auf Wunsch der Familie sang er "It's not easy being green". Ein Lied, das eigentlich für Frosch Kermit komponiert worden war.

In der Nähe von Boston wuchs Spinney als Sohn eines Uhrmachers und einer Schneiderin auf. Der New York Times beschrieb er seine Kindheit als wenig glücklich. Als er nach einem Sturz für zwei Dollar in einer Krankenstation behandelt werden musste, habe ihn sein Vater angeschrien: "Willst Du mich ins Armenhaus bringen?" Und als eine Mitschülerin Spinneys den Lehrer fragte, was das Wort "mickrig" bedeute, habe der Lehrer geantwortet: "Schau Dir Caroll an, der ist mickrig." Später schaffte es Spinney dank seines ausgestreckten Armes, den ganz großen Vogel zu geben.

"Wie jeder ganz normale zweieinhalb Meter große sprechende Vogel"

Was Big Bird denn dazu sage, dass er jetzt zum Wahlkampfthema geworden sei, wollte der Moderator der "Saturday Night Live"-Show gerade von seinem Studio-Gast wissen. "Ich fühle mich, als wäre ich berühmt", antwortete das Original-Puppentier mit der hellen Stimme. Er könne kaum noch unbeobachtet auf die Straße gehen, "wie sonst jeder ganz normale zweieinhalb Meter große sprechende Vogel". Dass dies sein erster und letzter Auftritt in dieser Sache war, darüber wachen nun die Macher der Sesamstraße. Sie möchten ihre Figur - und Carroll Spinney, der auch Oskar spielt - aus der Politik raushalten.

Dass das Obama-Team ihren Präsidenten weiter als Big-Bird-Retter inszeniert, findet man bei der gemeinnützigen Produktionsfirma Sesame Workshop übel. Nur Cheryl Henson, Nachlassverwalterin ihres Vaters Jim, kann über all das noch lachen. Aus New York mailt sie eine Fotomontage, auf der Big Bird auf dem Esstisch der Romneyschen Großfamilie als Thanksgiving-Truthahn zubereitet wird.

Immer wieder hatte sich der in der Nähe von Woodstock lebende Spinney über den heutigen "Fernsehmist" für Kinder aufgeregt. Ihm, der selbst drei Kinder hat, sei es stets um die Vermittlung von Werten gegangen, nicht um Profit. Gleichzeitig entstand unter seiner Mithilfe klug-anarchisches Kinderfernsehen - mit Monstern, die Schränke essen oder Echsen, die Buchstaben verkaufen. Figuren, liebenswert und rätselhaft wie Ernie und Bert im Doppelbett.

Doch nicht nur Die Zeit warnte 1975 vor der "Sesam-Sackgasse", auch das SPD-Blatt Vorwärts kritisierte früh den "teuren Fehlgriff". Wahrscheinlich deshalb wird der Anteil an US-Original-Material für die deutsche Ausgabe immer weiter zurückgefahren. Samson, Tiffy, Finchen und Rumpel machen aus einem fröhlichen Cookie-Programm dämliches Matjes-Fernsehen. Das ist fast so schlimm, wie gute alte Freunde als Wahlkampfhelfer zu missbrauchen. Oder kleinen Kindern die Halloween-Candys aufzuessen.

© SZ vom 12.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: