Süddeutsche Zeitung

US-Kleinstadt Ferguson nach Tod von Michael Brown:Polizei gibt Identität des Schützen bekannt

Die Stimmung in der US-Kleinstadt Ferguson nach dem gewaltsamen Tod von Michael Brown wird allmählich wieder friedlicher. Das liegt vor allem am Abzug der Polizei-Spezialeinheiten. Eine Aktion der Hacker-Gruppe Anonymus hingegen sorgte für Unruhe.

Die wichtigste Frage ist noch immer nicht beantwortet: Was geschah tatsächlich am vergangenen Samstag in Ferguson, einem Vorort von St. Louis? Fest steht lediglich, dass der unbewaffnete Afroamerikaner Michael Brown von dem Polizisten Darren W. erschossen wurde. Derzeit ermitteln die Polizei von St. Louis, die Bundesbehörde FBI und das amerikanische Justizministerium parallel. Lange schwiegen die Behörden - nun gaben sie in einer Pressekonferenz die Identität des Mannes bekannt, der Brown erschoss. Das berichtete die New York Times. W. arbeitet seit sechs Jahren für die Polizei in Ferguson. Für den Polizeichef der Kleinstadt ist jetzt - sechs Tage nach der Tat - der richtige Moment, den Namen preiszugeben. "Der öffentliche Aufschrei ist sehr groß. Darum haben wir uns entschlossen, den Namen heute zu veröffentlichen", sagte Thomas Jackson vor Journalisten.

Das lange Schweigen hatte die Demonstranten zusätzlich verärgert. Die Veröffentlichung des Namens übernahm daher am Donnerstag die Hacker-Gruppe Anonymous - und beging damit einen großen Fehler. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter veröffentlichte sie einen Namen samt persönlichen Informationen und einem Foto, das den vermeintlichen Täter bei einem Unfall mit einem Segway zeigen sollte. Einem Polizeisprecher zufolge handelte es sich jedoch in beiden Fällen um die falsche Person. Twitter schloss daraufhin den Account des Hackers, der die Information verbreitete.

Dass Anonymous die Namen trotz berechtigter Zweifel an dem Wahrheitsgehalt veröffentlichte, ist für Gabriella Coleman, Professorin an der kanadischen McGill-Universität und Anonymous-Expertin keine Überraschung: "Ich vermute, sie wollten dadurch die Polizei von St. Louis zwingen, den Namen des tatsächlichen Täters zu veröffentlichen", sagte sie der Washington Post. Eine andere, bisher nicht belegbare Theorie Colemans ist, dass die Verantwortlichen durch die bewusste Herausgabe eines falschen Namens die bisher hohe Glaubwürdigkeit der Hacker-Gruppe beschädigen wollten. Es könnte sich in diesem Fall um Spione der Regierung oder andere Hacker handeln, die Anonymous empfindlich Schaden zufügen wollten und daher die Hinweise im Netz manipulierten, so Coleman.

Gemeinhin gilt die Hacker-Gruppe Anonymous als sehr gut informiert und verlässlich. In dem für weltweites Aufsehen sorgenden "Steubenville-Fall" Anfang 2013 spielten sie eine bedeutende Rolle. Zwei beliebte Spieler des örtlichen Footballteams hatten nach einer Party eine 16-Jährige vergewaltigt. Die Jugendlichen hatten die Tat im August 2012 gefilmt und fotografiert - dann verbreiteten sie die Aufnahmen im Internet und per Handy. Es tauchten weitere Videos auf, in denen andere Jugendliche der Vergewaltigung tatenlos zusehen, das Opfer auslachen und beleidigen. Diese Aufnahmen wurden damals von Anonymous ins Netz gestellt - um zu beweisen, dass sich mehr als nur zwei Menschen eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Auch in anderen Fällen konnte die Hacker-Gruppe mit ihren Informationen zur Aufklärung beitragen - in Ferguson jedoch wurde klar, dass auch Anonymous eines nicht ist: unfehlbar.

"Manchmal muss man die Leute ganz einfach sprechen lassen"

Dennoch war die Stimmung in Ferguson am Donnerstagabend gelöst, als hätte jemand aus einem Luftballon, der kurz vor dem Platzen stand, vorsichtig die Luft herausgelassen. Die gesamte Stadt schien kollektiv auszuatmen. Die Menschen protestierten friedlich, sie umarmten einander, hin und wieder lachten sie sogar. Einer der Gründe dafür marschierte mit ihnen und hielt ein Foto von Brown hoch. "Deswegen sind wir hier", sagte Ronald Johnson. Er arbeitet für die Highway Patrol des Bundesstaates Missouri und ist seit Donnerstag für die Sicherheit in der Stadt verantwortlich. Johnson ist Afroamerikaner, er ist in Ferguson geboren, die Menschen betrachten ihn als einen der ihren und werten die Berufung durch Gouverneur Jay Nixon als Zeichen des Respekts.

Vor allem aber trug Johnson weder Schutzanzug noch Sturmgewehr, er versprach den Menschen, dass sie so lange demonstrieren dürften, wie sie wollten - so lange sie sich friedlich verhalten und den Verkehr nicht gefährden würden. "Manchmal muss man die Leute ganz einfach sprechen lassen", sagte Johnson. Es funktionierte: Am Donnerstagabend sah diese Stadt nicht mehr aus wie ein Kriegsgebiet.

Ein weiterer Grund für die Deeskalation waren die deutlichen Worte von US-Präsident Barack Obama. Der sicherte den Bewohnern in Ferguson nicht nur "das Recht auf friedlichen Protest" zu, sondern garantierte auch einen "offenen und transparenten Prozess, um zu sehen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird." Kurz darauf verkündete Generalstaatsanwalt Eric Holder, dass die wichtigsten Zeugen bereits von Mitarbeitern des FBI und des Justizministeriums befragt worden seien und dass die Ermittlungen gründlich und fair verlaufen würden. Seine Aussagen waren eine deutliche Abkehr von der Kommunikation der vergangenen Tage, das Schweigen der Ermittler galt als einer der Katalysatoren für die Gewalt.

"Es sah aus wie in Beirut"

Vor allem nach Sonnenuntergang hatte sich in Ferguson ein furchterregendes Bild geboten. Es waren Polizisten zu sehen, die aufgrund ihrer Bekleidung und Bewaffnung so wirkten, als würden sie ein Schlachtfeld betreten. "Es war beängstigend, es sah aus wie in Beirut", sagt Stephen Wood, der an jeder Demonstration seit Sonntag beteiligt war. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, in der Nacht zum Mittwoch wurde ein 19 Jahre alter Demonstrant angeschossen, einen Tag später setzten die Polizisten Tränengas und Gummigeschosse ein. Die Protestierenden zündeten einen Supermarkt an und bewarfen die Beamten mit Steinen und Brandbomben.

Die Beantwortung der wichtigsten Frage schien dabei kaum mehr von Bedeutung zu sein, das Urteil bereits vor dem Ende der Ermittlungen festzustehen. Auf zahlreichen Schildern war der Spruch "Hands up, don't shoot" zu sehen - ein Hinweis darauf, dass ein Zeuge angemerkt habe, dass der 18 Jahre alte Brown mit erhobenen Händen vor den Polizisten weggelaufen sei, ehe er erschossen wurde. Im Internet veröffentlichten die Menschen unter dem Hashtag #IfTheyGunnedMeDown Bilder von sich selbst in unterschiedlichen Situationen mit der Frage, welches Foto die Medien wohl veröffentlicht hätten: das in Gangsterpose oder das mit Fliege um den Hals und Saxophon in der Hand?

Die Meinung vieler Bewohner, ohne die Fakten zu kennen: Michael Brown wäre noch am Leben, wenn seine Hautfarbe eine andere gewesen wäre oder er an diesem Abend andere Klamotten getragen hätte. Ein anderes Ergebnis der Ermittler - dass die Beamten Brown aus Notwehr töteten, weil der sich gegen die Befragung gewehrt und nach einer Pistole gegriffen habe -, wäre ihrer Ansicht nach nur ein weiteres Indiz dafür, dass willkürliche Polizeigewalt akzeptiert und die Wahrheit verschleiert würde. Auch deshalb gab es Schilder mit der Aufschrift: "No Justice, No Peace" - keine Gerechtigkeit, kein Frieden.

Genau deshalb sorgten in Ferguson die Worte von Präsident Obama, die neue Transparenz bei den Ermittlungen, der Abzug der Spezialeinheiten und die Berufung von Ronald Johnson zum Sicherheitschef für derartige Erleichterung. Die Bewohner haben gemerkt, dass ihre Proteste gehört werden, auf höchster politischer Ebene. Sie fühlen sich ernst genommen und respektiert. Vor allem aber wurde ihnen zugesichert, dass sie bald eine Antwort bekommen werden auf diese wichtigste Frage.

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