Als Abraham 99 Jahre alt war, so heißt es im ersten Buch Mose, schloss Gott einen Bund mit ihm und seinen Nachkommen: Seid ihr mir treu, bin ich euch treu. Für diesen Bund gebe es ein Zeichen: "Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden." In der islamischen Überlieferung heißt es, Abraham habe den Eingriff an sich selber vorgenommen - mit Hilfe einer Axt.
Die Beschneidung der männlichen Kinder war und ist das unauslöschlich archaische Unterscheidungsmerkmal der Juden und Muslime; oft genug riskierten jüdische Eltern dafür die Todesstrafe. Für Juden und Muslime ist es mehr als ein frommer Brauch.
Und so ließen auch jene muslimische Eltern, die nun unfreiwillig Rechts- und Religionsgeschichte geschrieben haben, ihren vierjährigen Sohn beschneiden; sie gingen zu einem Arzt, der machte das ordentlich, es gab aber eine Nachblutung, die Mutter kam mit ihrem Sohn ins Krankenhaus. Aus dem, was sie dort sagte, schloss ein Arzt, dass sie nicht ganz einverstanden gewesen sei mit dem Eingriff, und informierte die Polizei.
Entscheidend ist das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit
Das Kölner Amtsgericht sprach den Arzt vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei. Die nächste Instanz aber, das Landgericht Köln, hat nun in aufsehenerregender Weise anders geurteilt: Entscheidend ist nicht das Recht der Eltern auf Religions- und Erziehungsfreiheit, auch nicht das angenommene Wohl des Kindes, das nun im Schoße einer Religionsgemeinschaft aufwachsen kann. Entscheidend ist das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit. Der beschneidende Arzt wird nur deshalb nicht bestraft, weil er im "Verbotsirrtum" handelte, also nicht wissen konnte, dass er Strafbares tat.
Zum ersten Mal hat ein deutsches Gericht so geurteilt, und sollten andere Gerichte das künftig auch so sehen, hätte dies für Muslime und Juden in Deutschland gravierende Folgen: Wer beschneidet, begeht eine schwere Körperverletzung.
Es könnten sich nur noch Jungen beschneiden lassen, denen man abnimmt, dass sie sich aus freiem Willen dem Eingriff unterziehen. In den Synagogen und Moscheegemeinden müssten eigentlich verdeckte Ermittler tätig werden; irgendwann müssten alle Vereine, die für die Knabenbeschneidung eintreten, verboten werden. Heiterer Religionsfriede würde sich verbreiten im Land.
Der Mann, dessen Gedanken maßgeblich hinter dem Urteil stehen, heißt Holm Putzke und ist Professor für Strafrecht an der Universität Passau, er, geboren 1973 im sächsischen Dohna, gilt als einer der aufstrebenden Rechtswissenschaftler im Land, war Stipendiat der Adenauerstiftung und bei den Liberalen Hochschulgruppen aktiv, antisemitische oder antimuslimische Umtriebe liegen ihm fern. Seit er 2008 in einer Festschrift "die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben" untersuchte, hat ihn das Thema gepackt; das Kölner Urteil folgt nun seinen Argumenten.
Letztlich ist Putzke schlicht mit dem Handwerkszeug des Fachjuristen an die Sache herangegangen: Immer, wenn der Arzt das Messer ansetzt, geschieht eine Körperverletzung, wissen die Juristen. Der Arzt braucht einen guten Grund, um loszuschneiden: weil er das Leben und die Gesundheit des Patienten retten will, weil er, im Falle der Schönheitsoperation, das Wohlbefinden oder zumindest den sozialen Status dessen erhöhen will, der da den Eingriff wünscht.
Mit welchem Recht aber sollte der Arzt dem Willen der Eltern folgen und ihrem Kind die Vorhaut des Penis entfernen?
Schritt für Schritt hat der Passauer Strafrechtler sich dann die gängigen Argumente für die Straffreiheit der Beschneidung vorgenommen. Weil es das Recht auf Religionsfreiheit erlaubt? Das findet im Recht auf körperliche Unversehrtheit seine Schranken, sagt Putzke, ebenso das Recht der Eltern, über die Erziehung ihrer Kinder zu entscheiden.
Weil die Beschneidung dem Wohl des Kindes dient, weil ohnehin weltweit jeder vierte Mann beschnitten ist, in den USA gar 75 Prozent der Männer ohne Vorhaut leben, nicht besser und schlechter als Männer mit? Auch der medizinische Nutzen der Operation sei umstritten, antwortet Putzke. Und wie gut es tatsächlich für ein Kind sei, den Schmerz und die Traumatisierung einer medizinisch nicht notwendigen Operation auszuhalten, um dann zu einer Gemeinschaft zu gehören - das bleibe dahingestellt. "Warum verschieben Juden und Muslime die Beschneidung nicht auf einen späteren Zeitpunkt", fragt er, "und belassen es bei einem symbolischen Ritus, einem kleinen Stich zum Beispiel?"
Es ist eine positivistische Argumentation unberührt und unbeeindruckt von Tradition und Geschichte des Abendlands und Orients - und das wahrhaft Bemerkenswerte an ihr ist, dass das Kölner Landgericht ihr folgt. Das Urteil vom Rhein spiegelt, wie sich das Verhältnis von Recht und Religion in einer Gesellschaft wandelt, die säkular und multireligiös wird.
Irgendwann wird sich wohl Karlsruhe mit religiösen Beschneidungen befassen
Es gibt nicht mehr wie vor dreißig Jahren neben den kulturbestimmenden Christen knapp 30.000 weitgehend für sich lebende Juden und eine muslimische Community, von der man annimmt, dass sie bald wieder in die Heimat zurückkehren wird. Es leben inzwischen mehr als vier Millionen Menschen im Land, deren Religion es gebietet, Knaben zu beschneiden.
Der Sinn für die eigenen christlichen Rituale geht verloren, die der anderen Religionen bleiben erst recht unverstanden, werden bestritten, bekämpft, die Gerichte werden angerufen - und zum Schiedsrichter.
Manchmal zu Recht, wenn es zum Beispiel um dramatische Menschenrechtsverletzungen geht wie die Frauenbeschneidung, die nicht mehr ist als eine Gewalttat zum Zeichen dafür, dass Frauen nicht Herrinnen ihrer Sexualität sein dürfen. Manchmal aber ist es überhaupt nicht gut, wenn sich Richter zu Schiedsrichtern der Religion machen, sich über sie stellen, einen Rechtspositivismus quasi zur Ersatzreligion machen. Wo diese Grenze zwischen legitimem Einspruch im Namen des Grundgesetzes und Grenzüberschreitung liegt, das werden in den kommenden Jahren viele Urteile von vielen Gerichten neu justieren müssen, bis hin zum Verfassungsgericht.
Es spricht einiges dafür dass sich die Karlsruher Richter irgendwann mit der Beschneidung von Knaben aus religiösen Gründen werden beschäftigen müssen. Und dann der Auffassung des Zentralrats der Juden folgen, der im Kölner Urteil einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften sieht.