Urteil:Viele Fragen offen

Amanda Knox talks to the press surrounded by family outside her mother's home in Seattle, Washington

Erleichterung: Amanda Knox (Archivbild aus dem Jahr 2015) nachdem sie vom Vorwurf des Mordes freigesporchen worden war.

(Foto: Jason Redmond/Reuters)

Amanda Knox und Raffaele Sollecito sind nun endgültig frei. Doch der Mord an Meredith Kercher in Perugia könnte für immer ein Rätsel bleiben.

Von Oliver Meiler, Rom

So richtig zufrieden ist niemand, auch die ehemals Angeklagten nicht, die jetzt sagen, sie seien "froh" und "dankbar", ihr Leben wiederzuhaben. Der Freispruch für die Amerikanerin Amanda Knox und den Italiener Raffaele Sollecito im weltweit beachteten Mordfall von Perugia hinterlässt viele Wunden, bittere Erkenntnisse - und eine Fülle von Fragen. Vor allem eine Sache ist da, die man immer noch nicht weiß: Wer hat sie denn nun ermordet, die britische Studentin Meredith Kercher, am Abend des 1. November 2007 in jenem Häuschen an der Via della Pergola in der schönen umbrischen Universitätsstadt?

Vom Tag der Tat bis zum definitiven Urteil des italienischen Kassationshofs am Freitag vergingen 2703 Tage mit mehreren Ermittlungsverfahren und juristischen Volten, widersprüchlichen Thesen und umstrittenen gerichtsmedizinischen Tests. Doch die Täterschaft bleibt ein Rätsel. Im Gefängnis sitzt Rudy Guede, ein Ivorer, der zur Tatzeit am Tatort war und zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde, weil ihn die Justiz der Mittäterschaft bezichtigte. Doch das "mit" bleibt mysteriös, wohl für immer. Allein, hieß es immer, habe er die Tat nicht begangen. Guede hat schon fast die Hälfte seiner Strafe abgesessen, bald könnte er als Freigänger zur Arbeit gehen.

Besonders bitter ist der Epilog dieses langen Justizdramas für die Familie des Opfers, die Kerchers. In Interviews zeigten sich die Mutter und die Schwester Merediths am Wochenende "schockiert" über das Urteil. Es sei schwer zu verdauen, dass keine Gewissheit geschaffen wurde und keine Gerechtigkeit möglich sei.

Auf Gerechtigkeit werden auch die Freigesprochenen pochen, und zwar in Form von Entschädigungszahlungen des italienischen Staates. Knox und Sollecito verbrachten vier Jahre ihres Lebens in Haft für ein Vergehen, das ihnen nicht schlüssig nachgewiesen werden konnte. Noch stellten ihre Anwälte keine formalen Forderungen. Doch man hört, sie seien in Vorbereitung. Einer von Sollecitos Verteidigern sagte, man werde eine "Zahl mit vielen Nullen" präsentieren. Sein Mandant habe nicht nur vier Jahre unschuldig im Gefängnis verbracht, was schon "mindestens eine halbe Million Euro" rechtfertigen würde: Auch sein Ruf und jener seiner Familie seien in dieser Affäre beschädigt worden.

Die Freigesprochenen werden wohl bald Entschädigung fordern

Sollecito selbst, heute 31 Jahre alt, beschrieb seinen Gemütszustand nach dem Freispruch so: "Über alle diese Jahre hinweg bin ich jeden Morgen mit einem Dorn im Herzen aufgewacht, es war ein Albtraum. Jetzt kann ich mich meiner Zukunft widmen, meinem Leben, meinen Träumen." Sollecito beendete in der Haft sein Informatikstudium und hängte dann ein Ingenieurstudium an. Bei öffentlichen Terminen zeigte er sich stets mit seinem Vater, einem Arzt aus Bari, und mit seiner Verlobten. Er plane, sagt er, im Ausland zu leben und zu arbeiten, sobald er seinen Reisepass zurückerhält.

Eine Wiedergutmachung wird wohl auch Amanda Knox fordern. In ihrem Fall ist die Lage etwas komplizierter als bei ihrem ehemaligen Freund Sollecito. Der Kassationshof bestätigte nämlich einen Teilaspekt eines früheren Urteils gegen sie, ebenfalls definitiv: drei Jahre Haft wegen Verleumdung. Knox hatte ihren früheren Arbeitgeber, Patrick Lumumba, einen Barbesitzer aus Perugia, der sie als Kellnerin entlassen hatte, in den Mordfall verstrickt. Lumumba wurde später völlig entlastet. Da Knox vier Jahre Haft verbüßt hat, ist die Strafe dafür jedoch gedeckt. Ihre Entschädigungsforderung kann Knox allerdings lediglich an einem Jahr unberechtigter Haft orientieren.

Knox arbeitet seit einigen Jahren als Reporterin für die Zeitung West Seattle Herald. Für ihre Memoiren "Waiting to be heard" erhielt sie angeblich vier Millionen Dollar Vorschuss. In den USA gilt sie als Opfer einer italienischen Hexenjagd; die Kercher-Familie nimmt derweil Anstoß an Knox' neuem Ruhm. Knox will nun ihren Verlobten heiraten, einen Rockmusiker, den sie aus Jugendjahren kennt, Kinder bekommen, ein normales Leben leben.

In Italien wird darüber debattiert, ob die heimische Justiz mit ihrem Ping-Pong-System zwischen den Instanzen nicht einmal mehr unerhört langsam war. Und verwirrend. Der Kommentator des Corriere della Sera, der Verfassungsrechtler Michele Ainis, kritisiert das Problem scharf, schließt dann aber milde: "Der Prozess ist auch ein Sieg für die italienische Justiz. Wahrheit und Lüge residieren leider in einem schattigen Nest."

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: