Eine endgültige Zahl gibt es nicht, wird es vermutlich nie geben. Denn der Angeklagte, der am Donnerstag vor dem Landgericht Oldenburg zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, erinnert sich nicht mehr an alle seine Opfer. Es waren zu viele. Vor Gericht stand der ehemalige Krankenpfleger wegen der Ermordung von zwei Patienten und des versuchten Mordes an drei Patienten zwischen 2003 und 2005 am Klinikum Delmenhorst. Im Prozess hatte er dann gestanden, 90 Menschen ein lebensgefährliches Herzmittel gespritzt zu haben, 30 sollen dabei gestorben sein; die Polizei ermittelt jedoch in mehr als 200 Verdachtsfällen. Deshalb könnte Niels H. bald ein weiterer Prozess bevorstehen.
Im ersten Prozess aber fiel am Donnerstag das Urteil: Niels H. w ird wegen zweifachen Mordes, zweifachen Mordversuches und wegen gefährlicher Körperverletzung eines Patienten zu lebenslanger Haft verurteilt. Weil in einem Fall nicht sicher festgestellt werden konnte, dass der Patient an der Überdosis des Herzmedikaments starb, erkannte das Gericht hier nur auf gefährliche Körperverletzung. Außerdem wurde die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Damit ist ausgeschlossen, dass der 38-Jährige nach 15 Jahren auf Bewährung freikommt.
Niels H. ist nach Ansicht des Gerichts psychisch gesund und voll schuldfähig. Zu diesem Schluss war zuvor ein psychiatrischer Gutachter gekommen. "Die Menschen waren Spielfiguren für Sie - in einem Spiel, in dem nur Sie gewinnen und die anderen alles verlieren konnten", sagte der Vorsitzende Richter, Sebastian Bührmann. Er zeigte sich fassungslos angesichts der unmenschlichen Taten.
"Es war purer Zufall, wer überlebte, und wer starb"
Nach Ansicht des Richters hat Niels H. seinen Kollegen beweisen wollen, wie gut er Patienten wiederbeleben konnte. "Es war purer Zufall, wer überlebte, und wer starb", so Bührmann, "Sie haben Menschen zu Objekten degradiert." In den Taten komme "eine Unmenschlichkeit zum Ausdruck, die Angst macht". H. zeigte sich betroffen. Er sackte zusammen, als er das Strafmaß erfuhr. Seine Verteidiger hatten eine Verurteilung wegen zweifachen Totschlags und dreifacher gefährlicher Körperverletzung gefordert. Ob sie in Revision gehen, ist noch unklar.
Sobald die Polizei ihre Ermittlungen abgeschlossen hat, könnte Niels H. in einem neuen Prozess wegen weiterer Fälle vor Gericht stehen. Acht Exhumierungen hat die Polizei schon angekündigt. In den Leichnamen soll nach Überresten des Herzmedikaments gesucht werden. Sollte sich H.s Geständnis der zahlreichen weiteren Morde bestätigen, könnte er als einer der größten Serientäter in die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte eingehen.
Niels H. ist nicht der einzige Serientäter
Dabei ist er keineswegs der einzige Serientäter im Krankenhaus. 2006 wurde ein Krankenpfleger aus Sonthofen zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er 28 meist hochbetagte und zum Teil schwerkranke Patienten mit einem giftigen Medikamenten-Cocktail getötet haben soll. Ihm waren mehr als 80 Todesfälle zur Last gelegt worden. Als Motiv gab der damals 28-Jährige an, er habe die schwerkranken Patienten von ihrem Leid erlösen wollen. Tatsächlich entschied der Richter, der Pfleger habe einen Patienten auf Verlangen getötet; in 15 Fällen entschied er jedoch auf Totschlag und in zwölf Fällen auf Mord. Der "Todespfleger von Sonthofen" war damit für die bis dahin größte Zahl von Serientötungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte verantwortlich.
Zwischen Mitleid und Mord:Der Pfleger, der den Tod brachte
Er steht vor Gericht, weil er 29 Menschen im Krankenhaus getötet haben soll - Stephan L. sah sich als Erlöser: "Ich wollte sie aus der Ausweglosigkeit befreien."
Ebenfalls im Jahr 2006 starben neun Frauen in einem Altenheim bei Bonn durch die Hand einer 27-jährigen Pflegerin, die zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Manche der alten Menschen hat sie nach Ansicht des Gerichts mit einem Kissen erstickt.
Warum Pfleger töten
Anders als Niels H. gaben mordende Pfleger in der Vergangenheit oft an, den Patienten helfen und sie von ihrem Leid erlösen zu wollen. Doch das ist nach Ansicht von Karl Beine ein vorgeschobenes Motiv. Der Psychiater vom St.-Marien-Hospital in Hamm hat 35 Serien von Patiententötungen untersucht, neun davon im deutschsprachigen Raum. Aus seiner Arbeit kennt er zwei unterschiedliche Tätertypen.
Der erste tötet, um sich selbst und den Patienten von seinem Leid zu erlösen. "Sich selber, weil er das fremde Leid nicht länger ertragen kann, und den Patienten, weil er der Verstärker seines eigenen Leidens ist", sagt Beine, der auch an der Universität Witten/Herdecke lehrt. Dem zweiten Tätertypen geht es um die Anerkennung, die er in Rettungssituationen erfährt. Er will nicht töten, sondern retten, wie dies auch bei Niels H. der Fall war. Den Tod des Patienten nimmt er dabei in Kauf.
Wie Kollegen helfen können
"Alle Täter sind überdurchschnittlich selbstunsichere Menschen, die auf Anerkennung und Wertschätzung angewiesen sind", sagt Beine. Sie haben sich unbewusst für einen Beruf entschieden, in dem sie sich diese Anerkennung verdienen können. Bleiben die Erfolgserlebnisse dann aber aus, müssen sie nachhelfen. Der Alltag im Krankenhaus ist nicht glamourös. Ärzte und Pfleger sind häufig keine Retter, sondern nur Begleiter auf einem langen Leidensweg. Deshalb sind die Täter enttäuscht und gefrustet von ihrem Beruf, es geht ihnen schlecht.
Zusätzlich werden sie mit dem Leiden der Patienten konfrontiert und können damit nicht so umgehen, wie ihre gefestigten Kollegen. "In solchen Situationen entsteht die Bereitschaft zur Tat", sagt Beine. Es sei wichtig, dass andere Pfleger es wagten, ihre Kollegen direkt anzusprechen. "Wer das tut, der signalisiert: Ich kümmere mich um dich", so Beine. "Und ich beobachte dich. Das macht einen großen Unterschied."