Urteil im Fall Mirco:Grenzen der Gewissheit

Rechtsradikale fordern vor dem Gericht die Todesstrafe für Kindermörder, drinnen applaudiert die sensationslüsterne Menge den Richtern. Einzig die Eltern des ermordeten Mirco aus Grefrath wahren die Würde - für sie endet mit der Verurteilung von Olaf H. ein monatelanger Albtraum. Doch die Frage nach dem Warum bleibt quälend rätselhaft.

Marc Widmann, Krefeld

Der Nachmittag beginnt schon unappetitlich in Krefeld. Rechtsextreme haben sich vor dem Landgericht aufgebaut, einer trägt einen Galgen auf seinem T-Shirt, daneben steht: Todesstrafe für Kinderschänder. Drinnen drängeln sich Sensationsgierige um die Zuschauerplätze, und ein öffentlich-rechtlicher Kameramann klettert auf die Heizung vor dem Gerichtssaal, um dieses wegweisende Bild nicht zu verpassen.

Als endlich der Richter spricht, als er das Urteil verkündet zum Mord am kleinen Mirco im vergangenen September, klatscht die Meute im Saal auch noch los. Für einen kurzen Moment muss der Richter laut werden. "Bitte nicht", ruft er. "Helfen Sie uns, die Würde dieser Verhandlung zu wahren."

Die Würde wahren an diesem Tag Mircos Eltern, die ein paar Mal mit den Tränen kämpfen während der einstündigen Urteilsverkündung, als es um die letzten Minuten ihres Sohnes geht, darum, dass er sich aus Todesangst in die Hosen machte, aber für die mit dem Richterspruch zugleich ein monatelanger Albtraum endet. Die Würde wahrt auch das Gericht, in dem es die Lügen des Täters Stück für Stück auseinandernimmt in einem schmerzhaft detailreichen Urteil.

Lebenslang muss Olaf H. hinter Gitter, dieser bislang unbescholtene Telekom-Mitarbeiter, der da mit fleischigem Gesicht und ohne sichtbare Emotion auf der Anklagebank sitzt, erst mit Aktendeckel vor dem Gesicht, dann, als die Fotografen weg sind, ohne. Er hat bisweilen irritierend gelächelt im Prozess, aber jetzt hört er regungslos dem Richter zu: Verurteilt wegen Mordes, wegen Freiheitsberaubung und sexuellem Missbrauch eines Kindes. "Die besondere Schwere der Schuld wird festgestellt", sagt der Vorsitzende, und auch wenn Olaf H. unbeteiligt wirkt, so weiß der Angeklagte doch in diesem Moment, dass er für viele Jahre im Gefängnis bleiben wird, sollte die von seinem Anwalt angekündigte Revision ohne Erfolg enden.

Für das Gericht steht fest, dass der 45-jährige Familienvater in seinem VW-Passat fast vier Stunden lang durch die Gegend fuhr am Abend des 3. September 2010, dass er ganz gezielt auf der Suche war nach einem Opfer. Dass er schließlich dem Motor ausschaltete, das Licht löschte und den zehnjährigen Mirco aus Grefrath von seinem Kinderfahrrad zog. Dass er mit ihm mindestens 28 Minuten lang durch die Gegend fuhr, ihn dann in einem Waldstück entkleidete, auf der umgelegten Rückbank missbrauchte und schließlich erdrosselte, um nicht verraten zu werden: Mit einer blauen Plastikschnur aus dem Baumarkt, kunstvoll zu einer Schleife gebunden, wie Olaf H. es beim Katastrophenschutz lernte.

So hatte es der bullige Mann bei der Polizei gestanden, wenn auch erst am Schluss der zähen Vernehmungen, nach zahlreichen Versuchen, alles als Unfall oder Missgeschick darzustellen. "Wir haben keinen Anlass zu der Annahme, dass er sich zu Unrecht belastet hat", sagt der Vorsitzende Richter Herbert Luczak.

Verschüttetes Motiv

Dann aber, als es um das Motiv geht, endet die Gewissheit. Olaf H. behauptete, er habe Ärger mit seinem Vorgesetzten bei der Telekom gehabt, der habe ihn am Tattag in einem Telefonat "rund gemacht" und unter Druck gesetzt, das sei der Auslöser gewesen für alles. "Dieses Telefonat hat es nicht gegeben", sagt nun der Richter; ein Beispiel nur für die Lügen des Angeklagten. Der Chef sei auf Dienstreise gewesen an jenem Tag, ohne sein Telefon. Und überhaupt sei es unglaubhaft, dass Olaf H. der Wortlaut des angeblich so wichtigen Gesprächs erst nach einem Jahr eingefallen sei.

Es gab also nicht den einen Anlass, der den bislang so bieder wirkenden Familienvater ausrasten ließ. An einem ganz anderen Tag Anfang Juli, zwei Monate vor dem Mord, teilte ihm sein Chef mit, dass er mit seiner Arbeit unzufrieden sei und es so nicht weitergehen könne. "Es kommt in Betracht", sagt der Richter vorsichtig, dass sich Olaf H. in seinem Selbstwertgefühl verletzt sah und sich deshalb ein schwächeres Opfer suchte, um es zu demütigen, um endlich auch mal der Mächtige zu sein. Beweisen könne man das nicht. Und überhaupt hatte Olaf H. schon die Zusage für eine neue Stelle, mit einem neuen Chef, besser bezahlt.

In seiner Vernehmung hat Olaf H. den Ermittlern in einem offenen Moment erzählt, er habe bei der Tat, als er sich über sein wehrloses Opfer gebeugt habe, ein "Gefühl der Kontrolle" gespürt: "Das fühlt sich so gut an", gab er zu Protokoll, "endlich mal einer, der macht, was ich sage." Hinter diesen Worten liegt vielleicht sein Motiv verschüttet, und hätte der Täter vor Gericht mehr dazu gesagt, hätte er sich ehrlich mit dem Dunklen in seiner Seele befasst, wäre das Urteil womöglich milder ausgefallen.

Doch Olaf H. schwieg. Alle tiefergehenden Untersuchungen des vom Gericht bestellten Psychiaters "blockte er massiv ab", wie der Richter zusammenfasst. So konnte der Fachmann auch nur Vermutungen anstellen über diesen Mann mit vielen Ängsten und wenig Widerstandskraft gegen Stress. Wahrscheinlich kein Pädophiler, womöglich ein perverser Sadist. Auf jeden Fall aber sei Olaf H. voll schuldfähig und überdurchschnittlich intelligent.

Der Mord war wohlüberlegt, keine Spontantat", sagt der Richter. "Er war sich der Ohnmacht des Kindes bewusst, genau die wollte er erreichen." Die Leiden des kleinen Jungen seien so gravierend, dass die besondere Schwere der Schuld gegeben sei. Olaf H. kann daher nicht schon nach 15 Jahren freikommen. Für ihn kann lebenslänglich wirklich lebenslänglich bedeuten. Für diesen Mann aus geordneten Verhältnissen, der vor dem 3. September 2010 ein von seinen Kindern geliebter Familienvater war, mit dem Gesetz nie in Konflikt.

Die blaue Plastikschnur entsorgte er nach der Tat brav im Hausmüll. Er brachte seinen Passat in die Waschstraße und säuberte ihn. Dann chauffierte er damit seine Familie zu einem Fest.

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