Süddeutsche Zeitung

Urteil im Fall Kachelmann:Die Sache mit der Wahrheit

Niemand weiß, was Kachelmann tat und was er ließ - und doch ist der Fall juristisch gelöst. Denn Gerichtsverfahren sind keine Fußballspiele: Steht es unentschieden, gewinnt der Angeklagte, so will es die Unschuldsvermutung. Selbst wenn das Ergebnis der Wahrheit womöglich widerspricht: Ein Fehlurteil haben die Mannheimer Richter nicht verkündet.

Wolfgang Janisch

Ist das Landgericht Mannheim gescheitert? Man muss das fragen, weil es doch vor neun Monaten angetreten war, die Wahrheit im Fall Kachelmann herauszufinden. Nun bietet es dem Publikum zwei Wahrheiten zur Auswahl an: erstens den Wettermoderator als Vergewaltiger, zweitens sein angebliches Opfer als rachsüchtige Lügnerin. Das ist unbefriedigend, vor allem aber ist es für die Beteiligten ein menschliches Desaster: Beide tragen fortan das Stigma des potentiellen Rechtsbrechers - einer zu Unrecht.

Nun ist der Strafprozess kein Fußballspiel. Beim Fußball gehen die Mannschaften nach einem Unentschieden mit geteilten Punkten nach Hause oder sie spielen weiter, bis einer beim Elfmeterschießen den Ball in den Himmel jagt. Vor Gericht gelten andere Regeln: Steht es unentschieden, gewinnt der Angeklagte - so will es die Unschuldsvermutung.

Freilich haben die Mannheimer Richter es sich nicht leichtgemacht. Man mag die Details der Verhandlungsführung kritisieren, doch man muss ihnen zugestehen: Mit ungleich größerem Aufwand als in den vielen Vergewaltigungsprozessen, die abseits öffentlicher Wahrnehmung stattfinden, haben sie Zeugen vernommen, Indizien geprüft, Gutachter gehört, aber am Ende hat es nur für den Freispruch aus Mangel an Beweisen gereicht.

Dass diese Pattsituation das Publikum ratlos zurücklässt, hat auch mit gestiegenen Ansprüchen zu tun, die an den Strafprozess herangetragen werden. Das Gericht wird zunehmend als oberste Wahrheitsinstanz wahrgenommen, sei es im Dienste der Geschichte, sei es, um den Erwartungen von Opfern oder Angehörigen zu genügen. Im Kachelmann-Prozess kam ein merkwürdiges Paradoxon hinzu. Manche Medien haben sich sehr entschieden auf eine Version festgelegt - obwohl die Journalisten von den wesentlichen Aussagen ausgeschlossen waren.

Kein Fehlurteil

Ein umfassender Wahrheitsanspruch überfordert die Gerichte. Denn die Wahrheit im Strafprozess hat nur eine Funktion, die Klärung der Schuldfrage. Es kommt nicht darauf an, ob Kachelmann ein guter oder schlechter Mensch ist, sondern darauf, ob man ihm ein Verbrechen nachweisen kann. Deshalb kann es auch zu einer Pattsituation kommen: Niemand weiß, wie es wirklich war, und doch ist der Fall juristisch gelöst.

Die fünf Richter von Mannheim konnten sich in 44 Verhandlungstagen ein genaueres Bild von den Geschehnissen machen als irgendjemand sonst in der Republik. Womöglich gehen sie nun mit der drückenden Gewissenslast nach Hause, einen Menschen freigesprochen zu haben, den sie in ihrem Innersten vielleicht für einen Vergewaltiger halten.

Und doch haben sie entschieden, sich an den zentralen Satz des Rechtsstaats zu halten, dessen Größe wohl nur noch die Bewohner diktatorischer Regimes ermessen können: dass im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden sei. Das Ergebnis mag der Wahrheit widersprechen - ein Fehlurteil haben die Mannheimer Richter trotzdem nicht verkündet.

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Quelle:
SZ vom 01.06.2011
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