Der Sachverhalt, über den das Landgericht Köln zu entscheiden hatte, ist an sich nicht ungewöhnlich: Ein muslimischer Arzt führt bei einem vierjährigen Jungen eine Beschneidung durch, auf Wunsch der gläubigen Eltern. Der chirurgische Eingriff verläuft zunächst ohne Komplikationen. Doch zwei Tage nach der OP setzen Nachblutungen ein, die Mutter bringt ihren Sohn zur weiteren Versorgung ins Krankenhaus. Die Staatsanwaltschaft Köln bekommt Wind von dem Eingriff - für den keine medizinische Notwendigkeit bestanden hatte - und erhebt Anklage gegen den Mediziner.
Möglicherweise wegweisend ist jedoch die Bewertung des Falls durch das Landgericht: Die Kölner Richter sprachen den Arzt jetzt zwar frei. Sie werteten die Beschneidung in ihrem Urteil, das Süddeutsche.de vorliegt, jedoch als "einfache Körperverletzung". Der Eingriff sei "nicht durch die Einwilligung der Eltern gerechtfertigt, weil sie nicht dem Wohl des Kindes entspreche." Das Recht des Kindes auf Unversehrtheit überwiege in diesem Fall gegenüber dem Erziehungsrecht der Eltern und deren Grundrecht auf Religionsfreiheit.
Den Freispruch begründete das Landgericht damit, dass sich der Kölner Mediziner "in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum" befunden und angenommen habe, dass die Beschneidung aus religiösen Gründen "rechtmäßig" gewesen sei. Ein solcher Irrtum war nach Ansicht des Gerichts deswegen nicht zu vermeiden, weil in Rechtsprechung und Literatur Uneinigkeit herrsche.
Strafrechtlich besteht Klärungsbedarf
Einen ähnlichen Standpunkt wie die Kölner Richter hätten auch schon andere deutsche Gerichte vertreten, schreibt der Jurist Udo Vetter in seinem Grimme-Preis gekrönten lawblog. "Die meisten Entscheidungen drehen sich aber um zivilrechtliche Fragen, etwa die Überschreitung des Sorgerechts durch Eltern oder Schmerzensgeldansprüche beschnittener Jungen. Strafrechtlich scheint die Frage bislang in der Tat noch nicht geklärt", ordnet Vetter den Kölner Beschluss ein. In der entsprechenden juristischen Fachliteratur sei "durchaus (noch) zu lesen, eine religiös motivierte Beschneidung sei bei Jungen "sozialadäquat", verbunden mit dem Hinweis, die Beschneidung von Jungen sei nicht zu vergleichen mit der Genitalverstümmelung von Mädchen."
Während der Strafverteidiger zumindest damit rechnet, dass das Urteil noch "für Diskussionen sorgen wird", gehen andere Rechtsexperten einen Schritt weiter: Für sie hat die Entscheidung der Kölner Richter bundesweit Signalwirkung.
Seit drei Jahren werde die juristische Debatte um religiöse Beschneidung intensiv geführt, schreibt beispielsweise der Strafrechtler Holm Putzke von der Universität Passau in einem Kommentar zu dem Urteil. "Inzwischen stuft die Mehrheit der Experten medizinisch nicht notwendige, also auch religiöse Beschneidungen, als rechtswidrige Körperverletzungen ein." Dass sich das Landgericht dieser Meinung nun angeschlossen habe, bedeute "eine Zäsur: Zukünftig wird sich kein Mediziner mehr darauf berufen können, er habe geglaubt, Beschneidungen an nicht einwilligungsfähigen Jungen aus religiösen Gründen vornehmen zu dürfen." Der Beschluss sei "vor allem für Ärzte enorm wichtig, weil diese zum ersten Mal Rechtssicherheit haben", sagte Putzke der Financial Times Deutschland. Das Blatt hatte zuerst über den Fall berichtet.
Muslimische und jüdische Oragnisationen wehren sich gegen Verbot
"Das Gericht hat sich - anders als viele Politiker - nicht von der Sorge abschrecken lassen, als antisemitisch oder religionsfeindlich kritisiert zu werden", sagte Putzke der FTD. Er hoffe, das Kölner Urteil werde nicht nur die zukünftige Rechtsprechung prägen, sondern auch bei Anhängern der betroffenen Religionen zu einem "Bewusstseinswandel führen, Grundrechte von Kinder zu respektieren".
In Deutschland werden jährlich Tausende Jungen aus religiösen Gründen beschnitten. Der chirurgische Eingriff ohne medizinische Notwendigkeit ist hierzulande umstritten. Muslimische und jüdische Organisationen wehren sich jedoch gegen ein Verbot, weil sie sich dadurch in ihrer freien Religionsausübung eingeschränkt sehen.
Über eine grundsätzliche juristische Neubewertung müsste das Bundesverfassungsgericht entscheiden.