Süddeutsche Zeitung

Ursachensuche nach dem Amoklauf:"Du stirbst als Nächster"

Nach dem Massenmord an einer finnischen Schule regt sich Kritik an der Polizei, die den Täter verhört hatte. Mitschüler beschreiben den Schützen jedoch als "ganz normal".

Gunnar Herrmann, Stockholm

Fünf Buchstaben benötigte die Tageszeitung Aamulehti um auszudrücken, was Finnland am Tag nach dem Blutbad von Kauhajoki fühlt. "Miksi?" - "Warum?" titelte das Blatt in großen schwarzen Lettern. Auf eine Antwort warteten die Finnen am Mittwoch vergeblich. Zwar gab es mehrere Pressekonferenzen, auf denen Politiker und Polizei neue Details über den Massenmord und den Täter veröffentlichten sowie Konsequenzen ankündigten. Aber keiner konnte erklären, was Matti Juhani Saari dazu brachte, zehn Menschen und anschließend sich selbst zu töten.

Die Polizei hatte am Mittwoch noch nicht einmal alle Opfer zweifelsfrei identifizieren können. Einige der Leichen sind durch Brände schwer entstellt. Der 22-jährige Saari war am Dienstag mit einer Schusswaffe in seine Berufsschule eingedrungen und hatte acht Frauen und zwei Männer umgebracht. Anschließend schoss er sich in den Kopf. Mindestens zwei Schüler werden noch mit Schussverletzungen im Krankenhaus behandelt.

Der Massenmord ruft bei den Finnen schlimme Erinnerungen wach: Im November 2007 hatte es an einer Schule in Jokela bei Helsinki einen ähnlichen Vorfall gegeben. Damals tötete ein 18-Jähriger acht Menschen und sich selbst. Saari imitierte den Amoklauf in mehreren Punkten. Der 22-Jährige hatte am Dienstag kurz vor elf in einem Klassenzimmer wild um sich geschossen und mit Sprengsätzen und Chemikalien Brände im Schulgebäude gelegt.

Heftige Kritik an Polizei

Die Polizei geht davon aus, dass Saari gezielt tötete: Neun seiner Opfer besuchten wahrscheinlich die gleiche Klasse oder Jahrgangsstufe wie er. Auch ein Lehrer wird unter den Toten vermutet. Nicht alle Opfer wurden erschossen, einige starben an Rauchvergiftung. Die Ermordeten stammten aus der Region von Kauhajoki, das etwa 350 Kilometer nordwestlich von Helsinki liegt.

Die finnische Polizei sieht sich nach der Tat heftiger Kritik ausgesetzt. Sie hatte Saari am Tag vor der Tat wegen verdächtiger Videos und Bilder befragt, die er im Internet veröffentlicht hatte. Die martialischen Filme zeigen den 22-Jährigen bei Schießübungen mit seiner Kleinkaliberpistole, für die er seit August einen Waffenschein besaß. In einer Szene feuert Saari direkt in Richtung Kamera und sagt: "You will die next" - "Du stirbst als Nächster".

Doch die Polizei ließ den jungen Mann am Montag laufen, wenige Stunden später wurde er zum Massenmörder. Sogar seine Waffe durfte Saari behalten. Innenministerin Anne Holmlund kündigte wegen dieser Fehlentscheidung eine Untersuchung an.

Bei einer Hausdurchsuchung im Studentenwohnheim des 22-Jährigen fanden die Beamten Aufzeichnungen, denen zufolge Saari seit sechs Jahren Mordgedanken hegte. Es gibt ein Bekennerschreiben, dass jedoch nicht veröffentlicht werden soll. Das Material zeugt der Polizei zufolge von "grenzenlosem Hass auf alle Mitmenschen".

Mitschüler beschrieben Saari, der aus einem kleinen Dorf in Zentralfinnland stammt, als "ganz normal". Ein Einzelgänger sei er nicht gewesen. "Er war gesellig und hatte Freunde", sagte eine Schülerin. Im Internet trat Saari unter dem Pseudonym wumpscut86 auf, das sich aus seinem Geburtsdatum und dem Namen einer deutschen Musikgruppe zusammensetzt. Wumpscut ist wegen gewaltverherrlichender Texte schon öfter in die Kritik geraten. Die CDs tragen Titel wie "Blutkind" oder "Böses junges Fleisch".

Ministerpräsident will Waffen verbieten

Die Tat löste in Finnland eine Debatte um das Waffenrecht aus. Saari besaß seit einigen Wochen eine Walther P22, bei der es sich vermutlich auch um die Tatwaffe handelt. Die halbautomatische Kleinkaliberpistole kann zehn Schuss in kurzer Folge abfeuern. Das gleiche Modell benutzte auch der Amokläufer, der im April 2007 in der US-Universität Virginia Tech 33 Menschen tötete.

Ministerpräsident Matti Vanhanen will es Privatleuten nun verbieten, gefährliche Waffen zu tragen. Seiner Meinung nach gehörten Pistolen ausschließlich auf Schießplätze. Eine Verschärfung des äußerst liberalen finnischen Waffenrechts hatte die Regierung bereits nach dem Amoklauf von Jokela versprochen. Unter anderem sollte die Altersgrenze für den Besitz von Schusswaffen von 15 auf 18 Jahre angehoben werden - so schreibt es seit einigen Monaten auch eine EU-Direktive vor. Die Änderung der finnischen Gesetze wurde jedoch vom Parlament noch nicht verabschiedet.

Gewehre und Pistolen sind in Finnland stärker verbreitet als in anderen europäischen Ländern. Etwa jeder achte Finne hat einen Waffenschein, insgesamt befinden sich 1,6 Millionen Schusswaffen in Privatbesitz. Als Grund dafür wird oft die große Beliebtheit des Jagdsports genannt. Der 18-Jährige Pekka-Eric Auvinen, der im November 2007 acht Schüler in Jokela erschoss, musste zur Vorbereitung seiner Tat nur einem Schützenverein beitreten. Wenige Tage später kaufte er sein Mordwerkzeug in einem Fachgeschäft in der Nähe von Helsinki.

Dasselbe Geschäft suchte einem Bericht der Zeitung Hufvudstadsbladet zufolge einige Monate später Matti Saari auf und besorgte sich seine Walther.

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SZ vom 25.09.2008/grc
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