Süddeutsche Zeitung

·:Urknall in der Bronzezeit

Die griechische Insel Santorin war einst Zentrum des heftigsten Vulkanausbruchs der Menschheitsgeschichte - begrub sie das sagenhafte Atlantis?

Von Tina Baier

(SZ vom 29.10.2003) - Wie eine furchtbare Strafe der Götter muss es den Menschen vorgekommen sein. Der Himmel verfinsterte sich, und es regnete Asche. Giftige Dämpfe brannten in den Lungen und riesige, meterdicke Lavabrocken flogen kilometerweit durch die Luft. Das Meer begann zu kochen und Glutwolken fegten über das Wasser - ein Schauspiel, wie es die Menschheit erst viele hundert Jahre später wieder erleben sollte: als die ersten Atombomben gezündet wurden.

Bis zu dem gewaltigen Ausbruch des Vulkans auf der Insel Thera (heute die griechische Kykladeninsel Santorin) im Jahr 1645 vor Christus "wussten die Bewohner der Region vermutlich nicht, dass sie auf einem Vulkan lebten", sagt der Geologe Floyd McCoy von der Universität in Hawaii.

Aufgrund von Untersuchungen, die er am kommenden Sonntag auf dem Jahrestreffen der "Geological Society of America" in Seattle vorstellen will, ist der Wissenschaftler nunmehr überzeugt, dass der Ausbruch in der Bronzezeit noch viel gewaltiger war, als bisher vermutet wurde.

Diese Entdeckung machte McCoy beinahe zufällig: Als er gerade auf der 20 Kilometer östlich von Santorin liegenden Insel Anafi war, legten Straßenbauarbeiter dort eine Schicht aus Bimsstein frei, die von dem Ausbruch auf Thera stammte. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass die Schicht zwei Meter dick war.

"Die Kräfte, die so viel Gestein so weit vom Ausbruchsort entfernt aufgeschüttet haben, müssen viel gewaltiger gewesen sein, als bisher bekannt'", erzählt McCoy. Kurze Zeit später zeigten ihm griechische Kollegen Proben von Bohrungen auf dem Meeresgrund zwischen Thera und dem griechischen Festland, die belegen, dass auch westlich des Ausbruchsorts große Mengen Asche niedergegangen sein müssen.

Bereits in den 90er Jahren hatten Forschergruppen Gestein des Feuerbergs von Thera in Anatolien und Ägypten gefunden, ebenso wie auf dem Grund des Schwarzen Meers und im Nil-Delta. Auf Grundlage all dieser Ergebnisse gelang es McCoy, den so genannten VEI-Wert (Volcanic Explosivity Index) der Thera-Eruption neu zu berechnen. Hierbei wird die Explosivität von Vulkanausbrüchen auf einer achtteiligen Skala klassifiziert. Thera erreichte demnach "7,0 oder mehr".

Damit muss die Explosion deutlich heftiger gewesen sein, als der Ausbruch auf der indonesischen Insel Krakatau 1883 (VEI: 6,0), mit dem Thera bisher verglichen wurde. Damals explodierte ein Drittel der neun Kilometer langen und fünf Kilometer breiten Insel innerhalb von zwei Tagen. 36 000 Menschen kamen in den bis zu 40 Meter hohen Flutwellen (Tsunamis) ums Leben, die der Ausbruch auslöste.

Stahlschiffe wurden an den Nachbarküsten wie Spielzeug mehrere Kilometer weit ins Landesinnere geschleudert. Die Druckwelle der Explosion wurde sogar noch im brandenburgischen Potsdam registriert.

McCoys Ergebnisse geben nun der Theorie neuen Auftrieb, wonach der Ausbruch auf Thera zum Untergang der minoischen Hochkultur beigetragen haben könnte. Deren Zentrum mit dem Palast von Knossos lag auf dem 100 Kilometer entfernten Kreta.

Der Wissenschaftler ist überzeugt, dass dort als Folge der Eruption riesige Tsunamis angebrandet sind und sämtliche Siedlungen auf Meereshöhe, Häfen sowie die minoische Flotte zerstört haben. Handel und Fischerei dürften in der Region monatelang unmöglich gewesen sein, weil das Meer mit schwimmenden Bimsstein-Trümmern übersät war. "Dieses Material ist charakteristisch für besonders explosive Eruptionen", sagt Hans Pichler, emeritierter Professor für Mineralogie an der Universität Tübingen. Das leichte Gestein entsteht, wenn die Lava aufschäumt und dann an der Luft rasch abkühlt.

Zwar gilt inzwischen als unwahrscheinlich, dass der Ausbruch die minoische Kultur auf einen Schlag vernichtete. "Dafür ist der zeitliche Abstand zwischen der Eruption 1645 vor Christus und dem geschätzten endgültigen Untergang der Minoer im Jahr 1450 vor Christus zu groß", sagt Pichler.

"Doch die Langzeitauswirkungen waren enorm und haben wahrscheinlich zur Schwächung der Minoer beigetragen", glaubt McCoy. 40 Kilometer hoch muss die Eruptionssäule des Vulkans von Thera gewesen sein. Sie schoss Asche mit großer Wucht bis in die Stratosphäre, sodass das Sonnenlicht kaum mehr zur Erde durchdrang und das Klima merklich abkühlte.

Missernten, Hungerkatastrophen und politische Unruhen im Machtbereich der Minoer waren vermutlich die Folge. "Der Ausbruch hat die minoische Gesellschaft derart verunsichert, dass sie sogar ihre Religion gewechselt hat", sagt McCoy. Vor Thera hatten die Minoer einen Glauben, in dem Natur und Schönheit eine wichtige Rolle spielten und in dem es keine dominanten Götter oder bösen Geister gab. Doch dies ließ sich offenbar nicht mehr mit der Erfahrung der Katastrophe in Einklang bringen: Nach Thera verbreitete sich ein polytheistischer Glaube mit allmächtigen und grausamen Göttern.

60 Meter Asche

Auch wenn noch nicht ganz geklärt ist, wie schwer das minoische Zentrum auf Kreta von dem Ausbruch betroffen war - auf der Insel Thera selbst wurde alles Leben auf einen Schlag ausgelöscht und unter einer 60 Meter dicken Ascheschicht begraben.

"Es ist höchstens vorstellbar, dass einige kleine Pflanzen in Höhleneingängen die Katastrophe überlebt haben, ebenso wie vielleicht kleine Tiere, Schnecken oder Eidechsen", sagt Walter Friedrich, Geologe an der Universität im dänischen Aarhus, der bereits 70-mal auf Santorin war, um den Ausbruch zu erforschen.

Menschliche Skelette wurden auf Santorin bislang allerdings nicht gefunden, obwohl es bei Akrotiri eine große minoische Siedlung gab. "Vermutlich sind die Bewohner durch Vorzeichen gewarnt worden und konnten rechtzeitig fliehen", sagt Friedrich. Ausgrabungen zeigen, dass ein Erdbeben vor der eigentlichen Katastrophe große Teile der Stadt zerstörte.

Die Bewohner müssen nach dem Beben zurückgekehrt sein, um ihr Hab und Gut zu bergen: So hat man bei den Ausgrabungen unter anderem drei Betten gefunden die - fertig zum Abtransport - übereinander gestapelt und zusammengebunden waren. Offenbar haben die bronzezeitlichen Bewohner von Akrotiri sogar versucht, wieder Ordnung in ihrer zerstörten Stadt zu schaffen. Denn die Archäologen fanden an vielen Stellen Schutthaufen, die ihrer Meinung nach von Aufräumarbeiten zeugen.

Je mehr Details bei den Ausgrabungen in Akrotiri zu Tage gefördert werden, umso mehr Forscher vermuten, dass auf Thera möglicherweise auch die sagenumwobene Stadt Atlantis lag, von deren Untergang im Meer "in einem schlimmen Tag und einer schlimmen Nacht" der griechische Philosoph Plato berichtet hat. "In derart kurzer Zeit kann so etwas eigentlich nur durch ein vulkanologisches Ereignis passieren", sagt Friedrich. Auch Platos Beschreibung von kalten und warmen Quellen, die Zisternen und Bäder von Atlantis gespeist haben sollen, sowie die geschilderten Gesteinsfarben rot, weiß und schwarz deuten nach Ansicht von Friedrich darauf hin, dass Atlantis in einer Region mit vulkanischer Aktivität gelegen haben muss.

Die ursprünglich fast geschlossene Ringstruktur Theras stimmt ebenfalls mit Platos Vorstellung von Atlantis überein. Der Ausbruch zersprengte die Insel dann in drei Teile: die Hauptinsel Thera, Therasia sowie das wesentlich kleinere Aspronisi. Plato beschreibt zudem einen Kult der Atlanter, bei dem die Herrscher am "Tempel des Poseidon" Stiere ausbluten ließen. Bei den Minoern spielten diese Tiere eine wichtige Rolle; und bei den Ausgrabungen in Akrotiri hat man Stierhörner entdeckt.

Ob Atlantis nun auf Thera lag oder nicht - wahrscheinlich ist, dass der dortige Ausbruch die Wucht hatte, eine ganze Insel versinken zu lassen. Heutzutage ist der Vulkan auf Santorin ruhig. Ein dichtes Überwachungsnetz registriert jedoch alle seine Regungen. Zuletzt brach er im Jahr 1950 aus. "Doch zwischen den Ruhephasen bauen sich wieder Spannungen auf, weil an dieser Stelle die euro-asiatische und die afrikanische Platte aneinander reiben", sagt Friedrich. "Es kann jederzeit wieder losgehen."

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Von Tina Baier, unter Mitarbeit von Angelika Jung-Hüttl
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