Unverhältnismäßige Urteile:Wo Autos mehr wert sind als ein Menschenleben

In zwei spektakulären Fällen hat das Berliner Landgericht Urteile gefällt - und auch die Urteile sind spektakulär: Für sieben Jahre muss der Auto-Brandstifter von Berlin ins Gefängnis. Ein Gewalttäter, der einen jungen Mann in den Tod gehetzt hat, ist dagegen frei. Wie kann das sein?

Markus C. Schulte von Drach

Ist ein Menschenleben weniger wert als 80 Autos und ein Wohnhaus? Die Frage ist eine Provokation, zugegeben. Aber auch die zwei Urteile, die innerhalb der vergangenen Tage am Landgericht Berlin gefällt wurden, sind Provokationen - insbesondere wenn man sie vergleicht.

Serien-Auto-Brandstifter in Berlin gefasst

August 2011: Wieder brennt ein Auto in Berlin. Für Auto-Brandstiftungen muss André H. sieben Jahre ins Gefängnis. Das erscheint viel, wenn man weiß, dass Ali T. für Körperverletzung mit Todesfolge nur eine Bewährungsstrafe erhalten hat.

(Foto: Steffen Tzscheuschner/dpa)

Fall 1: André H. muss wegen Brandstiftung für sieben Jahre ins Gefängnis. Das Urteil wurde am Dienstag in der 17. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin gefällt. Bestraft wird der Angeklagte dafür, dass er laut Gericht von Juni bis August 2011 in Berlin "insgesamt 80 hochwertige Fahrzeuge mittels Grillanzünder in Brand gesetzt und dies bei weiteren sechs Fahrzeugen versucht" habe. Dazu kam, dass in zwei Fällen "durch die Brandstiftung auch Wohnhäuser in Mitleidenschaft gezogen" wurden. Der Schaden, den der 28-Jährige angerichtet hat, liegt insgesamt bei mindestens einer Million Euro, der schlimmste Einzelfall betrifft den Brand eines Einfamilienhauses.

Ohne Zweifel handelt es sich bei den Brandstiftungen um gravierende Vergehen. Dass H. das Leben von Menschen in Gefahr gebracht hat, wiegt schwer. Dies war allerdings seinen eigenen Aussagen zufolge nicht sein Ziel. "Reiche Leute, die mehr Geld haben, sollten sich auch mal ärgern", erklärte er. Und er beteuerte - dem Gericht zufolge glaubwürdig -, es täte ihm leid, dass er Menschenleben in Gefahr gebracht habe.

Fall 2: Am Donnerstag vergangener Woche verurteilte die 35. Große Strafkammer des Landgerichts Berlin Ali T. wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren - und setzte sie zur Bewährung aus. Dem Gericht zufolge griff der 21-Jährige auf dem U-Bahnhof Kaiserdamm einen jungen Mann an und verfolgte diesen "noch außerhalb des U-Bahnhofes". Sein Opfer Guiseppe M. flüchtete in Panik, geriet auf die Fahrbahn des Kaiserdamms und wurde dort von einem Auto tödlich verletzt. Der Täter stellte sich später selbst und erklärte, es tue ihm leid.

Wie kann es sein, dass ein junger Mann, der durch sein gewalttätiges Verhalten indirekt den Tod eines anderen verursacht hat, nicht ins Gefängnis muss, ein anderer junger Mann, der zwar etliche Autos und ein Haus zerstört, aber niemanden verletzt oder gar getötet hat, für sieben Jahre seines Lebens hinter Schloss und Riegel kommt?

Für das Gericht war es ein "tödlicher Unfall"

Im Fall Ali T. betrachtete das Gericht als strafverschärfend, dass der Angriff ohne Anlass erfolgt war. Auf der anderen Seite erlitt das Opfer unmittelbar durch den Täter nur "Körperverletzungen eher niedriger Intensität". Und der "tödliche Unfall" - als solchen bezeichnet das Gericht den Zusammenstoß zwischen dem flüchtenden Opfer und dem Fahrzeug - sei die Folge einer "Verkettung unglücklicher, nicht unbedingt nahe liegender Umstände", so dass "das Vorliegen eines minder schweren Falles angenommen" wurde.

Guiseppe M. hätte auf dem Kaiserdamm langsamer laufen können, erklärte der Richter, schließlich sei sein Verfolger acht bis neun Meter hinter ihm gewesen. Das klingt fast so, als wolle er dem Opfer eine Mitverantwortung für den eigenen Tod geben. Vielleicht ist es aber der Versuch, zu erklären, dass dem Täter möglicherweise nicht bewusst war, in welche Gefahr er das Opfer brachte.

Was aber wäre mit Guiseppe M. passiert, wenn der Angreifer ihn erwischt hätte? Vielleicht wollte Ali T. selbst im Augenblick der Raserei sein Opfer nicht umbringen. Ziel des Angreifers, der der Polizei wegen Raubdelikten und Körperverletzung bereits bekannt war, war aber auf jeden Fall, Guiseppe M. zu verletzen.

Ein weiteres Argument für das Gericht, ihn nicht ins Gefängnis zu schicken, war, dass er dort selbst Opfer eines Tötungsversuchs geworden war. Das mag man als eine Art Strafe betrachten, so dass es keiner weiteren bedurfte. Doch in Gerichtsurteilen sollte es nie nur um die zivilisierte Form der Abschreckung und Rache gehen, die wir Strafe nennen. Es geht auch um Resozialisierung und den Umgang mit gestörten Persönlichkeiten. Und ob Ali T. ehrlich bereut und ob seine Erfahrungen dazu führen, dass er lernt, seine Gewaltbereitschaft zu kontrollieren - das sollte das vorrangige Ziel sein -, kann man nur hoffen. Nun ist er jedenfalls wieder auf freiem Fuß.

Wieso aber wurde André H., der aus Zufall niemanden verletzt hat und dies wohl auch nie wollte, zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt? Und das Urteil gilt noch als milde. Hätte er nicht gestanden, hätte die Dauer der Haft auch zweistellig ausfallen können. Allerdings wäre er ohne Geständnis wohl gar nicht verurteilt worden. Denn keine einzige Straftat konnte ihm nachgewiesen werden.

Unfassbare Taten - unfassbare Urteile

Der Brandstifter war im Gegensatz zu dem U-Bahn-Schläger zuvor nicht auffällig geworden. Und seine Motive waren furchtbar alltäglich: Arbeitslosigkeit, Schulden, Einsamkeit und Geltungsdrang hätten ihn dazu getrieben, seinen Frust durch das Anzünden von Autos der Bessergestellten abzubauen. Seine Taten hätten "hohe Sozialschädlichkeit" gehabt, erklärte die Richterin - und meint damit die Sorge vieler Berliner, ihr Auto könnte als nächstes in Flammen stehen.

Welchen Nutzen könnten solche Urteile für die Gesellschaft oder die Täter haben? Beide Männer - auch wenn sie juristisch gesehen voll schuldfähig sind - haben offensichtlich schwerwiegende Probleme.

Ali T. hat sich offenbar nicht genug unter Kontrolle, um seine Aggressionen zu beherrschen. Ob das milde Urteil ihm helfen wird, dies zu ändern und in Zukunft seine Mitmenschen nicht mehr zu attackieren, ist offen. Das gilt auch für die 600 Stunden gemeinnützige Arbeit, die er leisten muss. Die Chancen wären wohl besser, wenn er sich in die Obhut eines Therapeuten begeben würde.

André H. hat sich zu wenig unter Kontrolle, um seinen Frust nicht am Besitz gut situierter Mitmenschen auszulassen. Ob er durch sieben Jahre Haft in die Lage versetzt wird, seine Wut zu überwinden, steht in den Sternen. Die Chancen wären wohl besser, wenn er sich in die Obhut eines Therapeuten begeben würde.

Beide Täter brauchen offensichtlich Hilfe - und beide Urteile sind wenig hilfreich. Vergleicht man überdies das Strafmaß der Fälle, hat man den Eindruck, dass das Landgericht Berlin den Wert von 80 Autos und einem Wohnhaus tatsächlich deutlich höher ansetzt als den Wert von Leib und Leben eines jungen Mannes.

"Die Taten sind unfassbar", urteilte das Gericht über die Brandstiftungen in Berlin. Doch die Taten, verbrecherisch und furchtbar wie sie waren, sind immer noch leichter fassbar als die Urteile des Landgerichts Berlin.

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