Unschuldig im Gefängnis:Einspruch, Euer Ehren

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Durch seine Entscheidung verbrachte ein Mann sieben Jahre hinter Gittern: Jetzt versucht ein Richter, sein fatales Fehlurteil in einem Vergewaltigungsprozess zu rechtfertigen. Doch sein Opfer will ihm diese Chance nicht geben.

Von Christopher Keil

Vor zwei Wochen, am 29. Oktober, saß Dieter Gill abends vor dem Fernseher. In den Nachrichten wurde über ihn berichtet. Für die Deutschen wird er von nun an der Vater sein, der sieben Jahre lang unschuldig im Gefängnis saß, weil seine Tochter 1996 eine Lüge verbreitet hatte. Detailliert bezeugte der Teenager damals vor dem Landgericht Kempten seine Vergewaltigung durch den Vater. Der Vorsitzende Richter, Hansjörg Straßer, glaubte ihr. Er, seine beiden Schöffen und die zwei Beisitzer hatten keine Zweifel.

Seit dem 29. Oktober, 17 Jahre später also, ist rechtskräftig, dass auch Richter Straßer irrte. Dieter Gills großer Tag fühlte sich aber nicht so groß an. Nach seinem Freispruch durch das Landgericht Memmingen mochte er den Sekt nicht trinken, den er morgens kaltgestellt hatte, notierten Journalisten der Zeit. Gill bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente, seine größte Sorge gilt der 33-jährigen Tochter. Sie vor allem hatte die Wiederaufnahme ermöglicht, weil sie ihre Anschuldigung zurücknahm und so neue Tatsachen schuf. Unter Tränen erzählte sie im Memminger Landgericht die Wahrheit.

Anderntags erhielt Gill einen Anruf von Richter Straßer, der mittlerweile im Ruhestand ist. Straßer bat um ein Treffen, weil sie "ein gemeinsames Schicksal" verbinde. Ganz sicher will Dieter Gill, 62, eines nicht: dem Vorsitzenden Richter i.R. begegnen, der so brutal in sein Leben eingriffen hat.

"Maske der Anteilnahme"

Der Strafrechtler Johann Schwenn aus Hamburg verteidigte Gill im Wiederaufnahmeverfahren. Schwenn glaubt, Straßer habe sich Gill lediglich "in der Maske der Anteilnahme genähert". Er wolle Gill "um den Wert der Feststellung seiner Unschuld bringen", das sei "niederträchtig". Dass ein Streit zwischen einem Richter und einem Strafverteidiger öffentlich ausgetragen wird, kommt so gut wie nie vor. Ungewöhnlich ist auch, dass Richter Menschen persönlich ansprechen, die sie einmal verurteilt haben. Noch ungewöhnlicher ist, dass ein Richter mit der Arbeit von Kollegen hart ins Gericht geht.

Eine Woche nach dem Freispruch titelte das Allgäuer Anzeigeblatt: "Ex-Richter kritisiert Gericht". Straßer glaubt, das Memminger Landgericht hätte "zwingend" auch ein seit 1996 (und damit ihm) vorliegendes psychiatrisches Gutachten einholen müssen. Was will Straßer? Sein Fehlurteil rechtfertigen?

Mittlerweile gibt es einen Briefwechsel zwischen Straßer und Schwenn. Die Schreiben, datiert auf den 3. respektive 7. November, liegen der SZ vor (siehe Links). Straßer attackiert darin Schwenn: "Es könnte der Eindruck entstehen, dass Ihre Verteidigungstaktik dahin ging, bewusst nur mit Teilwahrheiten zu arbeiten." Schwenn hält Straßer vor: "Sie haben weder den Wiederaufnahmeantrag noch spätere Schriftsätze der Verteidigung gelesen."

Worum geht es, abgesehen davon, dass sich der Richter durch den Freispruch Gills offenbar beschädigt sieht und um seinen Ruf kämpft? Vereinfacht ausgedrückt geht es in der Auseinandersetzung wesentlich um die Frage, ob Schwenn und das Memminger Landgericht im Wiederaufnahmeverfahren ein aussagepsychologisches und ein psychiatrisches Gutachten der Tochter benötigt hätten. Straßer lagen 1996 beide Gutachtenarten über die Nebenklägerin vor, auf sie stützte er sich als Vorsitzender bei der Beurteilung.

Auf die Frage des Allgäuer Anzeigebl atts, ob die seinerzeit 16-jährige Tochter ihre Beschuldigungen vor Gericht habe darstellen müssen, antwortete Straßer: Er könne sich zwar nicht mehr erinnern, schließe aber nicht aus, dass mit dem "jungen, vermeintlichen Opfer" schonend umgegangen wurde - "vor allem, wenn man merkt, aus anderen Beweismitteln wie aus zwei Gutachten schöpfen zu können". Wenn man die Einlassungen zum Memminger Freispruch allerdings richtig versteht, hätte Straßers Gericht die Lüge der Tochter erkennen können: Zerrüttete Familienverhältnisse, Selbstmordversuche, Therapien und mehr waren bekannt.

"Dürftige Qualität" des Gutachtens

Beide Gutachten von 1996 wurden jetzt im Wiederaufnahmeverfahren durch ein methodenkritisches Gutachten, das Schwenn in Auftrag gab, analysiert und als äußerst unprofessionell und nicht geeignet eingestuft. "Die dürftige Qualität musste man erkennen", findet Schwenn. Ein neues psychiatrisches Gutachten wäre nur nötig gewesen, wiese die Tochter heute Symptome einer psychischen Erkrankung auf. Doch die seien selbst von einer aussagepsychologischen Sachverständigen, die das Memminger Landgericht bestellt hatte, nicht festgestellt worden.

Für Straßer ist die Tatsache, dass der Freispruch Gills sich nicht auf ein psychiatrisches Gutachten stützt, trotz seines Ruhestandes nicht hinnehmbar. "Da die bayerische Justiz mit Spitzenjuristen besetzt ist, überrascht mich ein derartiges Versäumnis", teilt er mit. Strafrechtler Schwenn fordert er auf: "Diskutieren Sie mit mir das Thema der Wahrheitsfindung in Missbrauchsfällen öffentlich."

Dieter Gill muss mit anderen Tatsachen leben. Hansjörg Straßers Fehlurteil hat ihn aus der Bahn geworfen. Der Brief von Anwalt Schwenn an den Richter i.R. endet mit dem Satz:"Ich werde Ihnen nicht die Gelegenheit geben, Ihr Fehlurteil öffentlich zu verteidigen."

© SZ vom 12.11.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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