Seoul:Polizeichef: Wir haben die Situation unterschätzt

Seoul: Frauen beten in der Nähe des Unglücksorts, an dem am Samstagabend 154 Menschen ums Leben kamen.

Frauen beten in der Nähe des Unglücksorts, an dem am Samstagabend 154 Menschen ums Leben kamen.

(Foto: Lee Jin-man/AP)

Nach neuesten Informationen wurden insgesamt 154 Menschen in dem Gedränge in Seoul zu Tode gedrückt. In sozialen Medien verbreiten derweil viele Nutzer falsche Informationen und Gerüchte.

Von Thomas Hahn, Tokio

Nach der tödlichen Massenpanik im Seouler Ausgehviertel Itaewon ging es auch darum, die Gemüter zu beruhigen. Hong Ki-hyun, Chef des Amtes für öffentliche Ordnung in der südkoreanischen Polizeibehörde, informierte deshalb nicht nur über seine ersten Erkenntnisse zur Katastrophe, als er am Montag zu den Medien sprach. Er gab auch zu, dass man das Geschehen bei den Halloween-Feierlichkeiten am Samstag unterschätzt habe. "Es war abzusehen, dass sich dort eine große Anzahl von Menschen versammeln würde", sagte Hong, "aber wir haben nicht damit gerechnet, dass es wegen der vielen Menschen zu großen Verlusten kommen würde."

Nach den neuesten Zahlen wurden insgesamt 154 Menschen in dem Gedränge zu Tode gedrückt, die meisten zwischen 20 und 30 Jahre alt, 98 davon waren Frauen. 26 Opfer kamen aus dem Ausland, fünf aus Iran, je vier aus China und Russland, je zwei aus den USA und Japan, je eines aus Frankreich, Australien, Norwegen, Österreich, Vietnam, Thailand, Kasachstan, Usbekistan und Sri Lanka. Hong sagte, es seien an jenem Abend deutlich mehr Polizeibeamte in den Straßen von Itaewon unterwegs gewesen als in den Jahren vor dem Beginn der Pandemie. Allerdings sollten diese vor allem den Verkehr auf den Straßen regeln sowie auf möglichen Drogenhandel und Diebstähle achten. Dass sich in einer engen Gasse des Multikulti-Quartiers irgendwann zu viele Menschen drängten und schubsten, fiel ihnen anscheinend zu spät auf. "Mir wurde gesagt, dass die Polizeibeamten vor Ort keinen plötzlichen Anstieg der Menschenmenge feststellen konnten", sagte Hong Ki-hyun. Er bedauerte das.

"In den sozialen Medien verbreiten viele Nutzer falsche Informationen und provokatives Filmmaterial über den Unfall."

Trauer und erste Aufarbeitungsversuche prägten am Montag die Stimmung in Südkorea. Im ganzen Land kamen Menschen zu Traueraltären, gedachten der Opfer, brannten Weihrauchstäbchen ab, brachten Blumen und Beileidsgeschenke. In Itaewon blieben viele Geschäfte geschlossen. In den Netzwerken der südkoreanischen Internetgesellschaft allerdings war von Andacht teilweise wenig zu spüren. Am Wochenende hatten schon die Betreiber der wichtigsten Kurznachrichtendienste ihre Nutzer aufgefordert, keine Gerüchte zu schüren und keine verstörenden Bilder zu versenden. Am Montag tat Han Duck-soo, Premierminister und damit Stellvertreter von Regierungschef Yoon Suk-yeol, das noch einmal. "In den sozialen Medien posten einige Nutzer Hasskommentare über die Opfer und verbreiten falsche Informationen und provokatives Filmmaterial über den Unfall", sagte Han. "Ich bitte die Nutzer, das unbedingt zu unterlassen."

Eine ausgeruhte Debatte über Ursachen und Folgen der Katastrophe wollte Han damit sicher nicht unterdrücken. Denn natürlich gab es auch Menschen, die bedenkenswerte Kritik an den Behörden vorbrachten. Dieses Halloween-Wochenende war das erste ohne Beschränkungen seit Beginn der Pandemie vor knapp drei Jahren. Schon dieser Umstand hätte die Polizei dazu veranlassen können, die Menschenströme im verwinkelten Amüsierviertel Itaewon besser zu überwachen. Zumal es schon am Freitag unangenehm voll gewesen sein soll, wie Itaewon-Besucher berichteten. Es soll am Freitag sogar schon zu Schubsereien und Stürzen in der Unglücksgasse gekommen sein - ohne dass sich jemand verletzte. In der Verwaltung des Seouler Bezirks Yongsan, zu dem Itaewon gehört, gab es zwar durchaus eine Sondersitzung zu Sicherheitsfragen vor dem Halloween-Wochenende, wie die Nachrichtenagentur Yonhap berichtet. Aber dabei soll es mehr um Schutz vor dem Coronavirus und Restaurant-Hygiene gegangen sein. Dass Menschen wegen der schieren Masse in Gefahr kommen könnten, schien niemand auf dem Schirm zu haben.

"Wir haben ein 475-köpfiges Sonderermittlungsteam gebildet."

Warum so viele Menschen am Samstag in die enge Gasse drängten? Verbreitet ist die Darstellung, dass viele dem Gerücht folgten, dort könne man einen Youtube-Star treffen. Ob das wirklich stimmt, muss die Untersuchung durch die Polizei ergeben. "Wir haben ein 475-köpfiges Sonderermittlungsteam gebildet", sagte Nam Gu-jun, Chefermittler der Polizei. Die Taskforce wertet Augenzeugenberichte und Videos von Überwachungskameras aus. Über erste Erkenntnisse sagte Nam nur: "Die Zeugen haben unterschiedliche Angaben gemacht, und wir werden die Umstände weiter untersuchen." Die Aufarbeitung dürfte noch dauern.

Für andere ist sie hingegen schon beendet. "Hör auf, mich darauf anzusprechen", schreibt am Montag eine Studentin aus Seoul, die das Gedränge selbst erlebt hat und anonym bleiben muss. Tags zuvor hatte sie über den Kurznachrichtendienst KakaoTalk noch haufenweise Schreckensbilder aus Itaewon geschickt und berichtet, dass sie mit der Hilfe eines Mannes aus der erdrückenden Masse in eine Kneipe fliehen konnte. Jetzt sagt sie: "Ist vorbei." Nachfragen zwecklos. Die junge Frau nimmt sich ihr Recht, den Horror der Samstagnacht einfach zu vergessen.

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