Süddeutsche Zeitung

Unfalltod der kleinen Yue Yue in China:Protestieren, diskutieren, schönreden

Ganz China spricht über die Zweijährige, die vergangene Woche überfahren wurde und ihren Verletzungen erlag. Die 18 Passanten, die an der Schwerverletzten vorbeigingen ohne zu helfen, sind zum Synonym für die zunehmende Kälte in der Gesellschaft geworden. Die Regierung hingegen spielt den Vorfall herunter.

Henrik Bork, Peking

Auch Tage nach dem Verkehrstod eines zweijährigen Mädchens debattiert ganz China über Moralverlust und Herzlosigkeit in seiner Gesellschaft. In Foshan organisierten Menschen eine Mahnwache mit Kerzen an dem Ort, wo die kleine Yue Yue zweimal überfahren worden war. Auch in anderen Städten Chinas kam es zu Solidaritätskundgebungen - in Guangzhou demonstrierten 10.000 Menschen.

Die zweijährige Yue Yue war am vergangenen Freitag nach einem einwöchigen Kampf auf der Intensivstation ihren schweren Verletzungen erlegen. Das Kind war am 13. Oktober ihrer Mutter davon- und auf die Straße gelaufen. Nachdem sie von einem ersten Fahrzeug überrollt worden war, überfuhr sie eine Minute später ein Kleinlaster. Auf einem Polizeivideo, das seinen Weg ins Internet fand, waren 18 Passanten zu sehen, die an dem blutend auf der Straße liegenden Mädchen vorbeigingen, ohne zu helfen. Erst die 19. Passantin, eine ältere Müllsammlerin, hatte Yue Yue an den Straßenrand getragen und sich dann auf die Suche nach ihrer Mutter gemacht.

Der Vorfall wird in ganz China heftig debattiert. Die "shiba luren" ("18 Passanten") sind inzwischen zum Synonym für einen kaltherzigen Egoismus geworden, dessen Ursache viele Kommentatoren im Materialismus und dem gleichzeitigen spirituellen Vakuum des wirtschaftlich boomenden Chinas suchen. "Diesen einen Moment der Kälte hat das ganze Land gesehen. Er ist zu unser aller Wunde geworden", skandierten die Demonstranten am Unfallort.

Viele der Solidaritätsdemos waren spontan organisiert. Die von der Kommunistischen Partei kontrollierten Medien des Landes waren in den vergangenen Tagen erkennbar bemüht, die Debatte zu steuern und selbst dieser furchtbaren Geschichte noch einen positiven Spin zu geben. Die Propaganda betonte den persönlichen Einsatz der Müllsammlerin, die das Mädchen schließlich an den Straßenrand getragen und dort abgelegt hatte. Andere Kommentare der Parteipresse versuchten dem Urteil zu widersprechen, China sei herzlos geworden und die auf reines Wirtschaftswachstum konzentrierte Politik der Partei könnte möglicherweise daran schuld sein. Es dürfe in dieser Debatte nicht vergessen werden, dass in den vergangenen Jahren Millionen von Wanderarbeitern aus der Armut befreit worden seien, lautete beispielsweise ein typischer Beitrag der Zeitung China Daily.

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Quelle:
SZ vom 25.10.2011/sks
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