Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge:"Die Altersgrenze ist eine absolute Ungerechtigkeit"

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Wie kommen die Jugendlichen zum ersten Mal mit einem Amt in Kontakt?

Die meisten durch diese Polizeikontrollen. Wenn in Deutschland jemand sagt, dass er minderjährig ist, muss die Polizei ihn - formal gesehen - zum Jugendamt bringen. Manche wenden sich auch selbst an die Polizei und bitten um Hilfe. Viele sprechen am Bahnhof Privatpersonen an, von denen sie glauben, dass sie aus demselben Land kommen. Das erleben wir oft mit Westafrikanern. Es gibt auch Schlepper und Schleuser, die unbegleitete Minderjährige direkt zum Jugendamt bringen.

Was macht das Jugendamt dann mit den Minderjährigen?

Unbegleitete minderjährige Flüchtlingen befinden sich laut Gesetz in einer existenzbedrohenden Krisensituation, also muss sofort eingegriffen werden und sie müssen in Obhut genommen werden. Dann gilt es, die wichtigsten Fragen zu klären: Warum sind die Jugendlichen hier? Wie ist die familiäre Situation? Wie die gesundheitliche Situation? Sind sie psychosozial belastet oder traumatisiert? Das passiert im sogenannten "Clearingverfahren" und kann drei bis vier Monate dauern. In dieser Zeit befinden sich die Kinder und Jugendlichen in vorläufigen Unterkünften. Danach kommen sie in eine Einrichtung, die - wenn es die verfügbaren Plätze erlauben - der Lebenssituation des Jugendlichen angepasst ist. Ein 13-Jähriger würde zum Beispiel erst mal in eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung kommen und später ins betreute Jugendwohnen. Bis zu seinem 18. Lebensjahr würde man versuchen, ihn so weit zu verselbständigen, dass er in einer eigenen Wohnung leben kann, eine Ausbildung macht und sich im Optimalfall darüber selbst finanziert.

Oft weiß keiner, wie alt die Jugendlichen überhaupt sind, wenn sie zum ersten Mal auf einem Amt auftauchen.

Das Problem ist, dass man ohne gültige Ausweisdokumente kein Alter feststellen kann und das Jugendamt die Person nur in Obhut nehmen darf, wenn der Verdacht besteht, dass sie minderjährig ist. Da werden dann zum Teil hochumstrittene medizinische Verfahren angewandt.

Die Altersfrage ist so wichtig, weil die Asylsuchenden ab 16 Jahren selbst handlungsfähig sind und sich in einem asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren selbst vertreten müssten. In der Praxis ist inzwischen zum Glück anerkannt, dass diese Grenze Unsinn ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge betrachtet alle bis zum 18. Lebensjahr als minderjährig und setzt die Asylanhörung nur an, wenn es einen Vormund gibt. Jeder weiß, dass ein 16-Jähriger im Asylverfahren alleine keine Chance hat. Er ist dem Amt ausgeliefert, weil er ja gar nicht weiß, was er da erzählen soll.

Und ein 18-Jähriger weiß das?

Nein, der weiß es auch nicht. Uns ist klar, dass die Kinder- und Jugendhilfe die Missstände, die es im gesamten Asylverfahren gibt, nicht alleine lösen kann. Die Altersgrenze führt dazu, dass die Minderjährigen mit Vormund sich in einer deutlich besseren Situation wiederfinden, als jemand, der 18 oder 19 ist und keine Chance auf Unterstützung hat. Das ist eine absolute Ungerechtigkeit, die man aber nicht darüber auflösen kann, dass man den Kindern ihre Rechte nicht zugesteht.

Den Schleppern und den jungen Erwachsenen ist diese Lage bewusst. Einige versuchen, sich jünger zu machen als sie sind, um die Altersgrenze zu umgehen.

Unseren Erhebungen nach versuchen etwa 30 Prozent, sich jünger zu machen. Auf der anderen Seite stehen aber die, die sich älter machen. Ein Mädchen, das nach Deutschland kommt und Geld mit Prostitution verdienen will, wird niemals zugeben, dass es minderjährig ist. Viele machen sich erst älter, um in Südeuropa besser arbeiten zu können. Später geben sie dann wieder ihr richtiges Alter an. Mir ist es wichtig, dass durch diese Grauzone, die immer wieder Diskussionsgegenstand ist, nicht eine wichtige Tatsache verdeckt wird: Die meisten Jugendlichen, die alleine hierherkommen, sind minderjährig.

Können die Jugendämter die zusätzliche Belastung durch immer mehr minderjährige Flüchtlinge stemmen?

Ich bin kein Lobbyist für die Rechte der Jugendämter, aber man muss feststellen, dass sie personell viel zu schlecht ausgestattet sind. An sich können die Jugendämter mit unbegleiteten Flüchtlingen gut umgehen. Das sind im Endeffekt auch nur Kinder und Jugendliche, mit speziellen Bedürfnissen natürlich. Das Problem ist, dass sich die Jugendämter seit einiger Zeit mit immer mehr Aufgaben konfrontiert sehen, gerade was die Frage des Kinderschutzes angeht. Aus den Medien kennt man ja die Fälle von Kindesmisshandlungen, in denen die zuständigen Jugendämter anscheinend überfordert waren. Es wäre Sache des Gesetzgebers, da einzuschreiten. Der hat sich durch die UN-Kinderrechtskonvention und die Unterzeichnung der EU-Grundrechtecharta verpflichtet, das Kindeswohl an allererster Stelle zu sehen. Also muss er die Jugendämter - die das Kindeswohl durchsetzen sollen - entsprechend ausstatten.

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