Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge:"Das möchte sich niemand vorstellen"

Greeks Rue Refugees Bearing No Gifts as Middle East Meets Lesbos

Afghanische Jugendliche auf der Flucht.

(Foto: Bloomberg)

Die Jugendämter nehmen so viele Kinder in Obhut wie nie zuvor. Dieser Anstieg lässt sich auch durch Flüchtlingskinder erklären, die allein nach Deutschland kommen. Thomas Berthold vom Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge schildert, wie es ihnen dabei ergeht.

Von Tanja Mokosch

Weil sich die Kinder in akuten Gefahrensituationen befinden, müssen die Jugendämter in Deutschland so viele Minderjährige in Obhut nehmen wie nie zuvor. Insgesamt 42.100 waren es 2013 laut einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes, etwa 2000 mehr als 2012. Auffällig an der Statistik ist: Die Zahl der aufgenommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist von 4767 auf 6584 gestiegen - ebenfalls um etwa 2000. Mehr Kinder, die ohne ihre Eltern aus Kriegs- und Krisengebieten nach Deutschland kommen, könnten also eine Erklärung für die steigenden Zahlen sein.

Die Nichtregierungsorganisation "Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge" erhebt seit Jahren ihre eigenen Zahlen und kommt auf andere Ergebnisse. Sie zählt für 2013 etwa 5500 unbegleitete Flüchtlingskinder - weit weniger als das Bundesamt. Im Gespräch mit Süddeutsche.de erklärt Referent Thomas Berthold, wie mit den minderjährigen Flüchtlingen in Deutschland verfahren wird und woher die Differenzen in den Statistiken kommen.

Süddeutsche.de: Wie kommt es dazu, dass Kinder sich ohne ihre Eltern auf die Flucht begeben?

Thomas Berthold: Jungen werden häufig von ihrer Familie losgeschickt. Etwa wenn das eigentliche männliche Familienoberhaupt verstorben ist und die Söhne in Kriegsgebieten dann selbst von der Armee eingezogen werden könnten. Mädchen flüchten öfter vor innerfamiliärer Gewalt, wenn ihnen eine Zwangsheirat oder eine Beschneidung bevorsteht.

Laut Statistischem Bundesamt sind 89 Prozent der unbegleiteten Minderjährigen Jungen. Woran liegt das?

Aus Afghanistan und Syrien kommen schon kulturell bedingt mehr Jungs. Es kann auch passieren - und das gibt es ganz häufig - dass die Familien auf der Flucht getrennt werden oder die Eltern ums Leben kommen. Dann gehen eher die Jungs alleine weiter, egal ob sie 15 oder 20 Jahre alt sind. Kleinere Kinder und Mädchen bleiben, wenn irgendwie möglich, bei Familienmitgliedern. Ein 15-jähriges Mädchen alleine unterwegs - das möchte sich niemand vorstellen, was da passieren könnte.

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Thomas Berthold, Referent des Bundesfachverbandes für Unbegleidete Minderjährige Flüchtlinge e. V.

Thomas Berthold, Referent des Bundesfachverbandes für Unbegleidete Minderjährige Flüchtlinge e. V.

(Foto: privat)

Die Schlepper und Schleuser, mit denen die Jugendlichen ihre Flucht organisieren, verlangen für ihre Dienste Geld - zum Teil hohe Summen. Wie bringen die Kinder und Jugendlichen das auf?

Nur die wenigsten von ihnen haben genug Geld, um direkt nach Deutschland einzureisen. Viele verdienen sich etwas, indem sie auf Baustellen und Bauernhöfen schuften. Gerade in Südeuropa arbeiten Jugendliche, die dann weiterreisen, auf Gemüsefarmen, das sind klassische Saisonarbeitertätigkeiten. Natürlich spielt auch Prostitution eine Rolle - egal ob bei Jungen oder Mädchen. Die Flucht kann sich dann über Jahre erstrecken. Das ist für die Jugendlichen extrem belastend, weil sie alleine unterwegs sind oder in Gruppen mit Gleichaltrigen - jedenfalls ohne Eltern, völlig schutzlos und allen Gefahren ausgeliefert.

Wie erklären Sie sich, dass immer mehr Kinder und Jugendliche alleine nach Deutschland kommen?

Klar ist: Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ist gestiegen. Das lesen wir an den Asyl-Erstanträgen ab. Ursache ist die Situation in Ländern wie Syrien und Eritrea. Auch aus Somalia und den Maghreb-Staaten, also vor allem aus Tunesien, Algerien und Marokko, kommen deutlich mehr minderjährige Flüchtlinge. Der Anteil der Afghanen lag in den letzten Jahren bei mehr als 50 Prozent. Überall wo Bürgerkrieg herrscht, gibt es ein hohes Fluchtaufkommen. Eine große Rolle spielt aber noch etwas anderes: Das Bewusstsein ist gestiegen, die Jugendämter nehmen ihre Pflichten gegenüber unbegleiteten Minderjährigen genauer wahr und zählen auch genauer.

Es gibt aber Widersprüche in den Zahlen. Das Statistische Bundesamt spricht von 6600 Fällen, Ihre Stelle nur von 5500. Woher kommen diese Unterschiede?

Beide Zahlen sind richtig. Das Bundesamt zählt alle, die in Obhut genommen werden. Aber es kann sein, dass das Alter später korrigiert wird und jemand dann nicht in Obhut verbleiben kann. Wir hingegen zählen nur die, die tatsächlich als Minderjährige aufgenommen werden und nicht diejenigen, die nach zwei Tagen wieder aus dem System herausfallen.

Wo kommen die meisten jugendlichen Flüchtlinge in Deutschland an?

Der Frankfurter Flughafen spielt eine große Rolle, genau wie der Hauptbahnhof Frankfurt als großer zentraler Umsteigepunkt. Ein ähnliches Drehkreuz ist Hamburg. Da wollen besonders viele afghanische Jugendliche hin, denn die Stadt hat eine der größten afghanischen Communities in Deutschland. Entweder gehen die Jugendlichen in die Städte, wo es ein Netzwerk gibt oder sie werden entlang der großen Verkehrsrouten aufgegriffen: in Nordrhein-Westfalen oder entlang der A 7, Deutschlands längster Autobahn. In Bayern werden viele in Rosenheim oder am Münchener Hauptbahnhof von der Polizei aufgegriffen. Da kommen die Züge aus Italien an.

"Die Altersgrenze ist eine absolute Ungerechtigkeit"

Wie kommen die Jugendlichen zum ersten Mal mit einem Amt in Kontakt?

Die meisten durch diese Polizeikontrollen. Wenn in Deutschland jemand sagt, dass er minderjährig ist, muss die Polizei ihn - formal gesehen - zum Jugendamt bringen. Manche wenden sich auch selbst an die Polizei und bitten um Hilfe. Viele sprechen am Bahnhof Privatpersonen an, von denen sie glauben, dass sie aus demselben Land kommen. Das erleben wir oft mit Westafrikanern. Es gibt auch Schlepper und Schleuser, die unbegleitete Minderjährige direkt zum Jugendamt bringen.

Was macht das Jugendamt dann mit den Minderjährigen?

Unbegleitete minderjährige Flüchtlingen befinden sich laut Gesetz in einer existenzbedrohenden Krisensituation, also muss sofort eingegriffen werden und sie müssen in Obhut genommen werden. Dann gilt es, die wichtigsten Fragen zu klären: Warum sind die Jugendlichen hier? Wie ist die familiäre Situation? Wie die gesundheitliche Situation? Sind sie psychosozial belastet oder traumatisiert? Das passiert im sogenannten "Clearingverfahren" und kann drei bis vier Monate dauern. In dieser Zeit befinden sich die Kinder und Jugendlichen in vorläufigen Unterkünften. Danach kommen sie in eine Einrichtung, die - wenn es die verfügbaren Plätze erlauben - der Lebenssituation des Jugendlichen angepasst ist. Ein 13-Jähriger würde zum Beispiel erst mal in eine stationäre Jugendhilfeeinrichtung kommen und später ins betreute Jugendwohnen. Bis zu seinem 18. Lebensjahr würde man versuchen, ihn so weit zu verselbständigen, dass er in einer eigenen Wohnung leben kann, eine Ausbildung macht und sich im Optimalfall darüber selbst finanziert.

Oft weiß keiner, wie alt die Jugendlichen überhaupt sind, wenn sie zum ersten Mal auf einem Amt auftauchen.

Das Problem ist, dass man ohne gültige Ausweisdokumente kein Alter feststellen kann und das Jugendamt die Person nur in Obhut nehmen darf, wenn der Verdacht besteht, dass sie minderjährig ist. Da werden dann zum Teil hochumstrittene medizinische Verfahren angewandt.

Die Altersfrage ist so wichtig, weil die Asylsuchenden ab 16 Jahren selbst handlungsfähig sind und sich in einem asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verfahren selbst vertreten müssten. In der Praxis ist inzwischen zum Glück anerkannt, dass diese Grenze Unsinn ist. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge betrachtet alle bis zum 18. Lebensjahr als minderjährig und setzt die Asylanhörung nur an, wenn es einen Vormund gibt. Jeder weiß, dass ein 16-Jähriger im Asylverfahren alleine keine Chance hat. Er ist dem Amt ausgeliefert, weil er ja gar nicht weiß, was er da erzählen soll.

Und ein 18-Jähriger weiß das?

Nein, der weiß es auch nicht. Uns ist klar, dass die Kinder- und Jugendhilfe die Missstände, die es im gesamten Asylverfahren gibt, nicht alleine lösen kann. Die Altersgrenze führt dazu, dass die Minderjährigen mit Vormund sich in einer deutlich besseren Situation wiederfinden, als jemand, der 18 oder 19 ist und keine Chance auf Unterstützung hat. Das ist eine absolute Ungerechtigkeit, die man aber nicht darüber auflösen kann, dass man den Kindern ihre Rechte nicht zugesteht.

Den Schleppern und den jungen Erwachsenen ist diese Lage bewusst. Einige versuchen, sich jünger zu machen als sie sind, um die Altersgrenze zu umgehen.

Unseren Erhebungen nach versuchen etwa 30 Prozent, sich jünger zu machen. Auf der anderen Seite stehen aber die, die sich älter machen. Ein Mädchen, das nach Deutschland kommt und Geld mit Prostitution verdienen will, wird niemals zugeben, dass es minderjährig ist. Viele machen sich erst älter, um in Südeuropa besser arbeiten zu können. Später geben sie dann wieder ihr richtiges Alter an. Mir ist es wichtig, dass durch diese Grauzone, die immer wieder Diskussionsgegenstand ist, nicht eine wichtige Tatsache verdeckt wird: Die meisten Jugendlichen, die alleine hierherkommen, sind minderjährig.

Können die Jugendämter die zusätzliche Belastung durch immer mehr minderjährige Flüchtlinge stemmen?

Ich bin kein Lobbyist für die Rechte der Jugendämter, aber man muss feststellen, dass sie personell viel zu schlecht ausgestattet sind. An sich können die Jugendämter mit unbegleiteten Flüchtlingen gut umgehen. Das sind im Endeffekt auch nur Kinder und Jugendliche, mit speziellen Bedürfnissen natürlich. Das Problem ist, dass sich die Jugendämter seit einiger Zeit mit immer mehr Aufgaben konfrontiert sehen, gerade was die Frage des Kinderschutzes angeht. Aus den Medien kennt man ja die Fälle von Kindesmisshandlungen, in denen die zuständigen Jugendämter anscheinend überfordert waren. Es wäre Sache des Gesetzgebers, da einzuschreiten. Der hat sich durch die UN-Kinderrechtskonvention und die Unterzeichnung der EU-Grundrechtecharta verpflichtet, das Kindeswohl an allererster Stelle zu sehen. Also muss er die Jugendämter - die das Kindeswohl durchsetzen sollen - entsprechend ausstatten.

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