Süddeutsche Zeitung

Umstrittenes Verfahren Psycholyse:"Mich hätte das fast das Leben gekostet"

Psycholytiker glauben, dass Rauschgift bei Traumata helfen kann - aber immer wieder kommt es zu Zwischenfällen - so wie zuletzt in Harburg. Zwei Aussteiger berichten.

Von Peter Burghardt

Die beiden Frauen aus dem deutschen Süden mussten nicht lange überlegen, als sie die Meldung aus dem Norden hörten: 29 schreiende Ärzte, Heilpraktiker und Psychologen wurden mit Herzrasen, Halluzinationen und Krämpfen aus einem Seminar in Handeloh bei Harburg in Krankenhäuser gebracht, mehrere von ihnen mussten auf der Intensivstation festgeschnallt werden. Die Gäste hatten offenbar eine verbotene Droge in Überdosis genommen, wohl 2C-E alias Aquarust. Die Polizei ermittelt.

Tagelang wurde darüber berichtet, die Polizei sagte, der Fall sei mysteriös, ein Krankenhaussprecher sagte, er habe so etwas noch nie gesehen. Sabine Bundschu und Ariela Bogenberger dagegen kommt das alles furchtbar bekannt vor.

"Entgleiste Sitzungen"

Sie kennen solche Horrorszenen. Zittern, Stöhnen, Schweißausbrüche. Erbrechen. Ariela Bogenberger sagt: "Wir hatten auch mal so eine entgleiste Sitzung, die mich sehr an das erinnert, was da passiert ist." Sabine Bundschu sagt: "Das geht ganz schnell, wenn einer austickt. Dann sind alle außer Rand und Band. Mich hätte das fast mein Leben gekostet."

Geschädigte wie sie und Kenner der Szene haben keinen Zweifel, dass es sich bei dem rätselhaften Exzess im Tagungszentrum "Tanzheimat" nicht um ein zufälliges Missgeschick handelte. Sondern um eine verunglückte Form der "psycholytischen Therapie" oder "psychedelischen Therapie" oder kurz "Psycholyse". Das Verfahren geht grob gesagt davon aus, dass bestimmte Rauschgifte die Seele öffnen, Ängste bezwingen und Traumata lösen. Nur ist die Chemie häufig illegal und in falschen Mengen so gefährlich, dass sie tödlich sein kann. "LSD, Ecstasy, die ganze Palette", berichtet Sabine Bundschu. Sie ist froh, dass sie das hinter sich hat.

Die Aussteigerinnen kommen aus Bayern, auch dort ist die Szene aktiv. "Es glaubt keiner, was das für ein riesiges Netzwerk ist", sagt Sabine Bundschu. Viele Menschen kennen ihre Stimme, die Musikerin und Sprecherin bespricht unter anderem Navigationsgeräte und Ansagen der Münchner U-Bahn. Ihre Erfahrungen aus der psychedelischen Loge hatte sie bereits im März in der ARD-Sendung "Beckmann" geschildert - und nun holt sie und eine ebenfalls betroffene Freundin das Thema erneut ein, weshalb sie vor Risiken und Nebenwirkungen der Bewegung warnen wollen. Bogenberger, eine erfolgreiche Drehbuchautorin, will, "dass das grundsätzlich aufgedeckt wird. Ich war gehirngewaschen. Das ist eine Sekte." Deshalb entschieden sie sich dazu, mit echten Namen in Erscheinung zu treten.

In die Hände eines Gurus geraten

Beide gerieten vor zwei Jahrzehnten in Lebenskrisen an die Heilsbringer - der übliche Weg. Ihr Guru sei - wie in vielen Fällen - der Schweizer Samuel Widmer gewesen. Der Psychiater lebt und praktiziert mit seiner Frau, seiner Freundin und mehreren Kindern auf einem Hof in Lüsslingen in der Schweiz. "Kirschblütengemeinschaft" nennt sich seine Kommune mit Hunderten Anhängern, die ihn angeblich verehren wie einen Erlöser. Seine Bücher tragen Titel wie "Im Irrgarten der Lust" oder "Ins Herz der Dinge schauen"; er erfand auch die "Therapeutisch-Tantrisch-Spirituelle Universität". Zu erreichen war er für die SZ am Freitag nicht, in einem seiner Bücher liest man dafür von ihm: Teure Studien würden beweisen, "was wir längst wissen, was Schamanismus seit Tausenden von Jahren verstanden hat, dass nämlich psycholytische Stoffe äußerst heilsame, unterstützende Wundermittel sind für die Selbsterkenntnisreise des Menschen, für die dringend notwendige Bewusstseinserweiterung."

Bis 1993 hatte der heute 66-jährige Widmer eine Schweizer Lizenz zur therapeutischen Verwendung von LSD und MDMA, vulgo Ecstasy, das eine beliebt in der Hippiezeit, das andere in Clubs. Offiziell verwenden er und seine Anhänger inzwischen nur noch erlaubte Präparate. Ausnahme ist das genehmigte Experiment seines Rivalen Peter Gasser, der Sterbenden zur Linderung LSD verabreichen darf. Aber ein verdeckter "Beckmann"-Reporter zeigte, dass für 300 Franken Gebühr Meskalin und MDMA/Ecstasy verabreicht worden sei, das rief wieder mal die Behörden auf den Plan. "Alle wissen, dass es im Untergrund solche Seminare gibt", sagt Ariela Bogenberger. "Die meisten wissen auch, was sie da nehmen."

Bei Widmer gab es Razzien, ein Sohn saß in Untersuchungshaft, es laufen Strafverfahren. Zahlreiche psycholytische Therapeuten gingen und gehen dennoch offenbar wie beseelt durch seine Schule. "Ich war eine ergebene Schülerin", sagt Bogenberger, 53 Jahre alt. " Das ist absolut manipulativ. Indoktrinierung funktioniert auch ohne Drogen, aber mit Drogen geht es viel besser. Und diese Drogen haben etwas ganz Tückisches."

LSD, Ecstasy, Pilze, Ayahuasca oder auch 2C-E seien in diesen Kreisen ständig veränderte Schlüssel. "Stellen Sie sich vor, Sie wollen in ein Zimmer", erläutert Ariela Bogenberger. "Die Drogen sind die Türen zu einem inneren Raum von Liebe und Glück." Drogen heißen "Sakramente", der Trip wird "Reise" genannt. Samuel Widmer schrieb über ein Erweckungserlebnis als Medizinstudent, von "Erinnerungen an etwas ganz Großartiges, Außerordentliches und enorm Sinngebendes, an einen in der Abendsonne gleich erhitztem Quecksilber glühenden, unglaublichen Brienzer See und an ein paar undeutliche Ahnungen von zwar kurzen, aber bedrohlichen Halluzinationen". Ariela Bogenberger schildert "zuckersüße Musik, die Wirkung des Verliebtseins". - "Sie lieben dann alles und jeden", sagt Sabine Bundschu, "aber das hält nicht lange und zerstört genau das, was es heilen soll."

Jeder Eingeweihte werde zum Schweigen über die Pillen verpflichtet, sagt sie. Die verwendeten Drogen gälten in dieser Gemeinde nicht als schädlich - Symptome würden als psychisch interpretiert, selbst unangenehmste. Auch dann, wenn etwas schiefgeht, weil sich der Zuständige in Maß oder Mischung vertan hat. Manchmal wartet der Tod, wobei auch der ja nur als Übergang gilt.

Neocor und Ecstasy tötete einen 28-jährigen Studenten

Sechs Jahre ist es her, dass die Herzen von Marcel K. und Joachim K. in Berlin-Hermsdorf zu schlagen aufhörten. Sie hatten in dessen Praxis dem Psychotherapeuten Garri R. vertraut, auf seinem Klingelschild stand "Psycholytische Psychotherapie". Das am 19. September 2009 verabreichte Neocor und Ecstasy tötete einen 28-jährigen Studenten und einen 58-jährigen Frührentner. Ein weiterer Teilnehmer fiel ins Koma und trug schwere Schäden davon. Der Arzt Garri R. wurde 2010 wegen Körperverletzung mit Todesfolge zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt und ist unterdessen wieder frei.

Sabine Bundschu und Ariela Bogenberger kennen Beteiligte des Dramas, man begegnete sich immer wieder. Ariela Bogenberger war dabei, als unter dem Co-Therapeuten Garri R. wenige Monate zuvor in Lüsslingen eine andere Zusammenkunft aus dem Ruder gelaufen sei. "Eine unsäglich kaputte Therapie", sagt sie. "Die Leute lagen komatös am Boden, einige sind ausgerastet. Aber es kam kein Krankenwagen, wir wurden niedergespritzt."

Im April 2014 schluckte Sabine Bundschu dann bei einer Session in Amsterdam das Fluoramphetamin 4-FMP, bis ihr fast der Schädel platzte. Erst nach 50 Stunden sei Hilfe bemüht worden - sie dachte erst, sie sei an den höllischen Kopfschmerzen selber schuld. In Wirklichkeit hatte Sabine Bundschu zwei Hirnblutungen erlitten, die Tabletten hatten Krämpfe im Gehirn ausgelöst: Reversibles zerebrales Vasokonstriktionssyndrom.

Sie konnte danach ein Jahr lang kaum mehr arbeiten. Doch der Schock war für Ariela Bogenberger immerhin der Auslöser, es sein zu lassen. Sie macht nun eine Sektenausstiegstherapie.

Personenkult und "Brainwashing im klassischen Sinne"

Der Münchner Kriminalhauptkommissar Harry Bräuer ist dem Phänomen als Opferschützer und Spezialist für Sekten und Okkultismus schon lange auf der Spur. Er sieht hier Leichtsinn, Personenkult und "Brainwashing im klassischen Sinne". Außerdem gehe es ja um einen Strafbestand: Irgendwo kommen die Drogen her. Meistens sei die Therapie ein stilles Ritual, deshalb falle die illegale Psycholyse selten auf. Bräuer hofft, dass der Exzess von Handeloh ein Weckruf war. Es klinge vielleicht zynisch, sagt Sabine Bundschu, aber für die Aufklärung sei es gut, dass da vermeintlich seriöse Ärzte und Therapeuten aufgeflogen seien.

"Ich habe 18 Jahre lang an diesen Schmarrn geglaubt", sagt Ariela Bogenberger. "Erst wenn du aufwachst, merkst du, dass du in Lebensgefahr warst."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2644059
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 12.09.2015/fie
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.