Süddeutsche Zeitung

Umstrittenes Kölner Urteil: Pro:Fragwürdige Beschneidung der Religionsfreiheit

Freiheit der Religion bedeutet nicht nur, dass gläubige Menschen ihren Ritualen nachgehen dürfen. Vielmehr hat der Einzelne das Recht, sich für oder gegen eine Religion zu entscheiden. Mit der religiösen Beschneidung aber zwingen Eltern ihr Kind zu einem schmerzhaften Gottes-Opfer, bevor es sich dagegen wehren kann.

Markus C. Schulte von Drach

Die körperliche Unversehrtheit ist ein Grundrecht in Deutschland und in der Europäischen Union. Das stellen unser Grundgesetz und die Charta der EU eindeutig fest. Die meisten Menschen in diesem Land werden kaum widersprechen, wenn man sagt: Sie ist ein Menschenrecht - ob man dies nun philosophisch, ethisch, religiös, utilitaristisch, positivistisch oder wie auch immer begründet.

Sobald Notwehr ins Spiel kommt, mag dieser Aspekt in Einzelfällen in den Hintergrund geraten. Für Kinder aber muss dieses Grundrecht uneingeschränkt gelten.

Nun gilt in Deutschland die Religionsfreiheit. Das bedeutet, Menschen können ihrem Glauben anhängen und religiöse Rituale ausführen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Zumindest, solange sie dabei nicht gegen Gesetze verstoßen.

Religionsfreiheit ist in erster Linie jedoch das Recht jedes einzelnen Menschen, sich für eine Religion zu entscheiden oder gegen jede Form des religiösen Glaubens. Um aber über die eigene Person entscheiden zu können, muss man eine gewisse Reife erlangt haben. Dazu gehört außerdem, dass ausreichend Informationen zur Verfügung stehen über die Möglichkeiten und Konsequenzen der Entscheidung für oder gegen einen bestimmten Glauben.

Kinder kommen nicht getauft und beschnitten zur Welt

Kleine Kinder verfügen über diese Reife nicht. Es bleibt deshalb Eltern und Erziehungsberechtigten überlassen, Entscheidungen für sie zu treffen. Diese Verantwortung erstreckt sich natürlich auch auf die Religionszugehörigkeit beziehungsweise Freiheit von jeglicher Religion. Das bedeutet aber auch, dass Kinder nicht bereits mit einer Religionszugehörigkeit zur Welt kommen. Auch wenn sie aus gesellschaftlicher Sicht in eine entsprechende Gruppe hineingeboren werden.

Sie kommen nicht getauft zur Welt, nicht beschnitten. Erst über diese Rituale werden sie - je nachdem - zu von Jesus erlösten Christen, gehen als Juden einen Bund mit Gott ein oder gehören zur Gemeinschaft der Muslime. Das ist die Überzeugung der Gläubigen, es begründet die Traditionen der religiösen Gemeinschaften. Und - noch einmal - es sind die Eltern, die entscheiden.

Religionsfreiheit bedeutet aber nicht, dass Eltern zum Beispiel ihre Kinder aus Schulen herausnehmen dürfen, um zu verhindern, dass sie dort Dinge lernen, die nicht im Einklang mit dem Glauben der Eltern stehen. Sie dürfen ihren Kindern nicht aus religiösen Gründen medizinische Versorgung vorenthalten. Und sie dürfen sie nicht schlagen, auch wenn manche fundamentalistischen Gemeinden es für ein Gebot Gottes halten, den Nachwuchs auch mit der Rute zu erziehen.

Freiheit bedeutet körperliche Unversehrtheit

Die Religionsfreiheit in Deutschland bedeutet also nicht, dass jeder prinzipiell tun kann, was ihm oder ihr dem Glauben zufolge angemessen erscheint. Und die Freiheit der Religion des einen hört auch schon da auf, wo die Freiheit des anderen anfängt. Diese Freiheit beinhaltet, dass das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit erfüllt sein muss.

Dieses Bedürfnis nach und das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss man auch einem Säugling oder Kleinkind zusprechen.

In Bezug auf die Beschneidung eines Kindes bedeutet das Recht auf körperliche Unversehrtheit und gerade die Religionsfreiheit also, dass eine religiös gerechtfertigte Verletzung erst erfolgen darf, wenn sich ein mündiger Mensch dazu entschlossen hat, den entsprechenden Glauben anzunehmen und Mitglied einer religiösen Gemeinschaft zu werden.

Bleibende körperliche Veränderungen

Auch die christliche Taufe eines Säuglings und die religiöse Erziehung an staatlichen Schulen sind im Sinne der Religionsfreiheit eigentlich kritisch zu sehen. Im Unterschied zur Beschneidung führen sie jedoch zu keinen bleibenden körperlichen Veränderungen, an denen sich der Betroffene später stören könnte. Die Beschneidung ist eine Kennzeichnung, die ihm als Kind unter Schmerzen zugefügt wurde - Schmerzen, an die man sich später vielleicht nicht mehr bewusst erinnert. Das gilt jedoch auch für andere frühkindliche Traumata, die deshalb noch lange nicht für harmlos gehalten werden.

Die religiös begründete Beschneidung ist ein Opfer, das nicht die Eltern ihrem Gott bringen, sondern zu dem sie ihr Kind zwingen, bevor dieses sich dagegen wehren kann. Und dass eine Tradition 4000 Jahre alt ist, spricht vor allem für eines: Sie stammt aus einer Gesellschaft, die mit unserer nicht zu vergleichen ist - und in der zu leben sich wohl die wenigsten von uns wünschen.

Soll jeder seinen Bund mit Gott eingehen auf die Art und Weise, wie er oder sie es will. Solange andere nicht darunter leiden. Säuglinge und Kinder können diese Religionsfreiheit noch nicht für sich in Anspruch nehmen. Das heißt aber nicht, dass man diese Freiheit den mündigen Bürgern, zu denen sie sich entwickeln werden, vorenthalten darf. Schon gar nicht, wenn diese Bevormundung mit einem schmerzhaften Eingriff und lebenslangen Narben einhergeht.

Lesen Sie hier das Contra: Richter dürfen sich nicht zur einer Über-Religion machen, kommentiert Matthias Drobinski.

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