Umstrittenes Kölner Urteil: Contra:Richter machen sich zur Über-Religion

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Darf Blut fließen im Namen der Religionsfreiheit? Das Kölner Landgericht verneint diese Frage und spricht damit ein problematisches Urteil über religiöse Beschneidungen. Veränderungen und Diskurse müssen innerhalb einer Religion stattfinden - und dürfen nur im Notfall von außen vorgegeben werden.

Matthias Drobinski

Das Kölner Landgericht hat die Frage nach dem Verhältnis von säkularem Recht und Religion auf die Spitze getrieben: Dürfen Eltern aus religiösen Gründen für ihren unmündigen Sohn entscheiden, dass ihm die Vorhaut des Penis abgeschnitten wird? Darf Blut fließen im Namen der Religionsfreiheit?

Das Gericht hat das in diesem Fall verneint: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit soll über dem Recht der Eltern stehen, über die Religionszugehörigkeit ihrer Kinder zu entscheiden, und über dem Recht der Religionsgemeinschaften zu entscheiden, was die Zugehörigkeit zu ihr ausmacht und was nicht.

Das ist eine ernste Frage. Und dass die Richter sich die Mühe gemacht haben, diese Frage auf die Spitze zu treiben, ist ein Verdienst; antisemitische oder antiislamische Motive dürfen ihnen da nicht unterstellt werden. Trotzdem ist es ein problematisches Urteil. Trotzdem sollten Menschen nicht mit Strafe bedroht werden, wenn sie fachgerecht einen Jungen beschneiden.

Wann Gerichte ins Elternrecht und in die Religionsfreiheit eingreifen dürfen, ist Abwägungssache. Das Bundesverfassungsgericht hat das betäubungslose Schächten von Tieren erlaubt, das staatlich verordnete Kruzifix dagegen verboten; im Kopftuchstreit hat es die Regel vorgegeben, das entweder religiöse Kleidung insgesamt erlaubt oder insgesamt verboten sein soll. Ob Eltern ihre Kinder aus der staatlichen Schule abmelden und zu Hause unterrichten dürfen, ist hoch umstritten. Dass die Beschneidung von Frauen verboten sein muss und schwer bestraft gehört, dürfte in Europa Konsens sein: Hier wird auf brutalste Weise in das Leben eines Menschen eingegriffen, sein Sexualleben zerstört.

Eine Abwägungssache also. Die Beschneidung von Jungen, seit 4000 Jahren im Judentum Praxis, greift bei weitem nicht so sehr ins Leben ein wie die von Mädchen. In den USA gilt die sogenannte Zirkumzision weithin als medizinisch sinnvoll; 75 Prozent der Männer sind dort beschnitten, ob Jude, Muslim, Christ, Atheist. Dieser medizinische Sinn wird bestritten, auch gibt es Berichte, dass gerade eine Beschneidung traumatisierende Folgen haben kann. Die Frage nach Nutzen und Schaden geht im Medizinischen also unentschieden aus.

Schwerer wiegt, dass ein Beschnittener, wendet er sich als Erwachsener von der Religion ab, seine Vorhaut nicht wieder zurückbekommen kann - die Beschneidung bleibt zurück als Zeichen der abgelegten Religion. Dagegen wiederum steht, dass es für ein Kind meist positiv ist, wenn es mit der Religion und Kultur der Eltern aufwächst. Eine schwierige Debatte also. Aber sie zeigt: Muslimische und jüdische Jungen sind bei weitem nicht so in Gesundheit, Wohlbefinden und Freiheit bedroht, dass hier der Staat eingreifen müsste wie eben bei der Mädchenbeschneidung oder bei jenen Zeugen Jehovas, die eine lebensrettende Bluttransfusion für ihr Kind ablehnen.

Denn die Hürde sollte hoch sein, ehe Gerichte, Polizei und Staat in das Selbstbestimmungsrecht der Religionen und der religiösen Menschen eingreifen. Gerade im Judentum gehört die Beschneidung von Jungen zum Kern der Religion. Und hierin liegt das eigentliche Problem des Kölner Urteils: Die Richter schützen nicht einfach Gesetz und Verfassung. Sie machen sich zum Richter über die Religion, man könnte sagen: zur Über-Religion. Sie machen einen von Geschichte, Kultur und Lebenswirklichkeit losgelösten Rechtspositivismus zu einer Art Religionsaufsicht, die so dem Staat und seinen Gerichten nicht zusteht.

Was würde passieren, wenn sich die Auffassung der Kölner Richter durchsetzte? Die Beschneidung von Jungen müsste als schwere Körperverletzung gewertet werden, sie wäre mit Gefängnis zwischen einem und zehn Jahren Haft bedroht. Wohlhabende Muslime und Juden würden ins Ausland fahren, die ärmeren ihre Kinder irgendwo beschneiden lassen - ein großartiger Schutz des Kindeswohls. Streng genommen müsste man jüdische Kultusvereinigungen und muslimische Moscheevereine verbieten, die ankündigen, dass sie weiterhin organisiert und im großen Stil schwere Körperverletzung begehen wollen; sinnvoll wären sicher auch verdeckte Ermittler in Synagogen und Moscheen. Heiterer Religionsfrieden würde sich ausbreiten im Land.

Man kann das wollen - wenn man will, dass der Staat die nützlichen von den weniger nützlichen Religionen unterscheidet, die erlaubten von den unerlaubten Kulten, die kompatiblen von den weniger kompatiblen Glaubensbekenntnissen. Man sollte es nicht wollen, wenn man davon ausgeht, dass die Freiheit zur Religion zu den Lebensvoraussetzungen des freiheitlichen und demokratischen Staates gehört, auch wenn in dieser Religion Widersprüchliches, Umstrittenes, gar Empörendes stattfindet. Die Diskurse und Veränderungen müssen aber in der Regel innerhalb der Religionen stattfinden - und nur im äußersten Notfall von außen vorgegeben werden.

Lesen Sie hier das Pro: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit muss man auch einem Säugling oder Kleinkind zusprechen , kommentiert Markus C. Schulte von Drach .

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