Umstrittener Profiler:True Detective

Fallanalyse mit Axel Petermann

Axel Petermann, 62, Profiler. Ein Freigeist mit besonderem Scharfsinn, sagen alte Bekannte von der Bremer Staatsanwaltschaft. Ein verschrobener Narzisst, sagen Polizeikollegen.

(Foto: Daniel Pilar/laif)

Kein Polizist kann so spannend vom Töten erzählen wie Axel Petermann, einer der umstrittensten Kriminalisten Deutschlands. Nun ist er im Ruhestand - doch als privater Profiler ermittelt er einfach weiter.

Von Laura Hertreiter

Zur Wahrheit führen drei Stufen. Drei Stufen, über die ein hagerer Mann mit einem Messer das Häuschen im Harz betrat. Ein Teil der Wahrheit ist, dass das helle Kleinstadtgebäude hinter dem Jägerzaun damals ein Bordell war. Zwei thailändische Prostituierte öffneten dem Mann die Tür und nannten einen Preis. Er nickte, trat ein, kurz darauf stach er so lange auf die beiden Frauen ein, bis eine von ihnen tot war. Die andere rannte blutüberströmt auf die Straße. Der Rest der Wahrheit liegt seit einem Jahrzehnt im Dunkeln.

Die Akte des Kriminalfalls, den die Polizei im Harz "Thai-Mord" nennt, ist längst geschlossen, in dem Häuschen verkaufen sie jetzt Tierfutter. "Whiskas für 69 Cent" steht in krakeliger Kreideschrift auf der Tafel neben dem Eingang. Es ist ein flirrend heißer Sommertag, Axel Petermann, 62, läuft mit langen Schritten vor dem Häuschen auf und ab. Der Ermittler ist gekommen, weil der Mörder nie gefasst wurde. Und weil er die Wahrheit nicht im Verborgenen lassen will.

Schritt, Blick auf die zerknitterten Fotos in seinen Händen, Schritt, Blick auf das Grundstück hinter dem Zaun, Schritt. Die Tanne auf dem Foto gibt es nicht mehr. Dafür sitzen heute in der Einfahrt Leute an einem Plastiktisch, über dem Zigarettenrauch wabert. Plötzlich löst sich ein schmaler Mann aus den Schwaden, mit einem energischen Ruck, wie einer, der schon eine Weile gelauert hat.

Exot unter diskreten Polizeibeamten

"Was machen Sie hier? Was soll das?" Seine Stimme ist laut, die Zunge schrammt beim Sprechen an die Zähne. Petermann, groß gewachsen, weißes, nackenlanges Haar, weißer Schnauzbart, hält die Fotos gegen die Sonne, kneift die Augen zusammen, lächelt. Aufzufallen ist er gewohnt. "Ich sehe mich um."

Petermann, der seit Jahrzehnten als einer der umstrittensten Kriminalisten des Landes gilt, will seinen ersten Fall als Privatermittler lösen. Vier Jahrzehnte lang arbeitete er bei der Kripo in Bremen, leitete die Mordkommission und untersuchte den Tod von mehr als 1000 Menschen. Immer wieder auch im Scheinwerferlicht von Kamerateams. Schon damals war er der Exot unter den diskreten Polizeibeamten. Ein Freigeist mit besonderem Scharfsinn, sagen alte Bekannte von der Bremer Staatsanwaltschaft, ein Querdenker. Ein verschrobener Narzisst, sagen Polizeikollegen. Seit Herbst ist Petermann nun im Ruhestand. Eigentlich. Denn in Wahrheit ermittelt er einfach weiter, im Auftrag von verzweifelten Angehörigen.

Ende der Neunzigerjahre beschäftigte er sich als einer der Ersten in Deutschland mit der Operativen Fallanalyse. Mit Ermittlungsmethoden also, mit denen Profiler beim FBI seit den Siebzigern bei Mord- und Sexualverbrechen in den USA versuchen, anhand von Spuren und Indizien Tatabläufe nachzuvollziehen und Täterprofile zu erstellen. Demnach ist jede Tat eine Kette von Entscheidungen des Täters. Mit jeder getroffenen Entscheidung gibt er ein Stück von sich preis.

In Deutschland wurde das Vorgehen anfangs belächelt. Das Nachspielen von Morden, das Annähern an die Gedanken eines Verbrechers galten als esoterisch in den Neunzigern, als die euphorische Annahme herrschte, man habe mit der DNA-Analyse eben erst den wissenschaftlichen Code gefunden, um jeden Mordfall zu lösen. Anders als viele Kollegen glaubte Petermann von Anfang an, dass die Auswertung von genetischem Material nur ein Teil der Ermittlung sein könne, dass die Fallanalyse helfen könnte, die Ergebnisse einzuordnen. Er sollte recht behalten: Seit Anfang der 2000er-Jahre gibt es speziell ausgebildete Fallanalytiker in allen Landeskriminalämtern.

Spezialermittler zwischen Gut und Böse

Vor dem ehemaligen Bordell wedelt der Mann hinterm Gartenzaun nun mit seiner Kippe, als könne er Petermann so aus der Luft radieren. "Verschwinden Sie, das ist kein Puff mehr. Wir wollen damit nichts zu tun haben." Er trägt eine Jogginghose und einen Kapuzenpullover mit abgeschnittenen Ärmeln, aus dem dünne Arme ragen. "Hauen Sie ab!"

"Ich bin Ermittler. Ich interessiere mich für den Mord, der hier vor zehn Jahren passiert ist." Hinten bei den Rauchern wird getuschelt, vorn am Zaun dehnt der Mann den Bund seines Pullovers mit den Daumen Richtung Boden. "Hier kommen noch immer Leute vorbei, die denken, hier wär ein Puff. Muss noch immer im Internet stehen." Er blickt prüfend in Petermanns Gesicht. Freundliches Lächeln. Kein Freier. Dann weicht die Vorsicht der Neugier.

"Wir wissen das mit dem Mord. Komisch, dass man den Mörder noch immer nicht kennt", er spricht jetzt in atemlosem Stakkato. "Wir wollten das Haus trotzdem, hat nicht viel gekostet. Verfluchter Saustall, als wir's übernommen haben. Überall Blut und Pulver von der Spurensicherung und durchgefickte Matratzen, nicht mal den Kühlschrank haben die ausgeräumt, dabei war der Mord vier Jahre her, als wir eingezogen sind, wir mussten alles entsorgen und haben es uns schön gemacht, Tierfutterladen, sehnse?" Er tritt von einem Plastikpantoffel auf den anderen. Dann fragt er: "Wollense mal reinkommen?" und schiebt das krächzende Gartentor auf.

Anders als in der bürokratischen Realität deutscher Polizeibeamter hatten Profiler in Film und Literatur schon in den Neunzigern den Erfolg von Sir Arthur Conan Doyles "Sherlock Holmes" fortgeschrieben. Die Hannibal-Lecter-Reihe, der Hollywood-Thriller "Sieben", oder die Serie "Profiler" erzählen einem Riesenpublikum von den Spezialermittlern zwischen Polizei und Verbrecher, zwischen Gut und Böse.

Und Petermann, der seit drei Jahrzehnten denselben sandfarbenen Trenchcoat trägt, ist nicht nur Kriminalist, sondern auch Geschichtenerzähler. Beim Rundfunk lieben sie es, wenn er mit ruhiger Märchenonkelstimme vom Töten spricht. Er hat den ARD-Tatort beraten und mit geänderten Namen Bücher über seine Fälle geschrieben, sie tragen Titel wie "Im Angesicht des Bösen" und "Auf der Spur des Bösen". Fesselnde Geschichten, in denen er seine Gedanken und Gefühle an Tatorten schildert, das Getriebensein auf der Suche nach Antworten auf Fragen, die eine Leiche aufwirft. Jedes Buch ein Bestseller.

Erstickt, erstochen, stranguliert: Der Fall der 19-jährigen Heike Rimbach

Das neueste, seit einigen Wochen in den Läden, heißt "Der Profiler". Es geht darin um Fälle aus seiner Dienstzeit, vor allem aber um seinen ersten Fall als Privatermittler: um den noch immer ungelösten Mord, der ihn in den Harz geführt hat. Nur wenige Kilometer von dem ehemaligen Bordell entfernt war vor 20 Jahren Heike Rimbach, in ihrem Elternhaus getötet worden. Ihr Vater fand die 19-Jährige an einem Augusttag. Erstickt, erstochen, stranguliert.

Jemand hatte auf ihren Hals eingestochen, genau wie der Angreifer im Bordell zehn Jahre später. Weil Mörder mit Messern meist auf Brust und Bauch losgehen, war es womöglich derselbe Täter.

Die Mutter der Toten, Maria Rimbach, versucht zwei Jahrzehnte nach der Tat mit verzweifelter Vehemenz, den Mörder zu finden. Sie geht in Talkshows, schreibt einen Blog. Und sie hat Axel Petermann engagiert. Der übernahm den Fall kostenlos - aber unter der Bedingung, die Geschichte im Buch mit Namen veröffentlichen und verkaufen zu können. Maria Rimbach zögerte keine Sekunde. Solange der Mörder frei herumlaufe, könne der Name der Tochter nicht präsent genug sein, findet sie.

Andere Ermittler lässt das erschaudern. Einige von ihnen sagen anonym, sie selbst würden niemals auf diese Weise Profit aus Verbrechen schlagen. Wenn Fallanalytiker Bücher schreiben, dann sachliche Abhandlungen. Harald Dern etwa, Bundeskriminalamt, ist Autor des Buches "Profile sexueller Gewalttäter. Theoretische Grundlagen und praktische Anwendung der Operativen Fallanalyse", das so nüchtern und analytisch ist, wie es der Titel verspricht. Alexander Horn, Leiter der bayerischen Dienststelle für Operative Fallanalyse, schreibt im Sachbuch "Die Logik der Tat", die meisten Kollegen bezeichneten sich selbst nicht als Profiler. Sie "mögen die Mythen nicht, die sich darum ranken." Sie arbeiteten im Team, nach einem 38-seitigen Katalog an Qualitätsstandards. Als möglichst namenlose Dienstleister für klassische Ermittler. Das Narrativ vom Helden, der das Böse besiegt, wenn die Polizei scheitert, finden sie albern. Es ist die Logik, nach der Petermanns Bestseller funktionieren - und spätestens seit der Pensionierung auch seine Arbeit.

Sie greift nach dem Kugelschreiber und zeigt, wie der Mann mit dem Messer auf ihren Hals zielte

Das Buch über den rätselhaften Fall Rimbach ist beendet, die Ermittlung nicht. In dem Haus, das ein Bordell war, hängt beißend der Geruch von Hundepisse. Petermann zwängt sich durch den vollgestellten Flur, hinter verschlossenen Türen scheppert zorniges Gekläffe. "Hier war der Mord", ruft der Mann. Er stemmt sich gegen eine verkeilte Tür, ein Hund stürzt hechelnd heraus. Das Zimmer ist ein großer Abstellraum. Vor den Blutfleck haben die Bewohner bunt gestreifte Tapete geklebt und einen Schrank gerückt. "Mit Putzen war nix zu machen", sagt der Mann. Petermann schreitet die Wände ab, zählt die Schritte zum Flur, von der Stelle aus, an der die Frau verblutete, während ihre Kollegin ins Freie rannte.

Der Tag zuvor: Petermann besucht ebenjene Kollegin in ihrer winzigen Wohnung. Zuerst kauert sie auf ihrem abgewetzten Sessel, die Arme um die Knie geschlungen, Lippenstift verrutscht, Narben am Hals. Immer wieder bittet Petermann, den Tag vor zehn Jahren Minute für Minute zu beschreiben und vorzuspielen. Die Thailänderin antwortet in wackeligem Deutsch, sie kniet sich auf den Boden, die Hände schützend über dem Kopf. Wie damals, als der Mann auf sie losgegangen war.

"Und dann?"

, fragt Petermann.

"Ich bin nach draußen gerannt."

"Gab es vorher kein Gerangel?"

"Doch." Die Frau wirft sich auf den Rücken. "Er saß auf mir, wollte mich mit dem Messer töten." Sie greift nach Petermanns Kugelschreiber und zeigt, wie der Mann mit dem Messer auf ihren Hals zielte. Wie sie in die Klinge griff, die Knöchel weiß hervortraten. Wie sie ihm all ihre Kraft entgegensetzte, bis er abließ. Sie steht auf, blickt auf ihre vernarbten Hände.

"Und dann?" "Bin ich nach draußen." Ihre Stimme ist ein Flüstern. Dann läuft sie los, über den krümeligen Teppich zur Tür, wie damals, bevor sie aus dem Haus ins Freie rannte, während ihre Kollegin drin verblutete.

Tags darauf versucht Petermann bei Hundegebell, sich jede ihrer Bewegungen am Tatort vorzustellen. So lange, bis er alles vor sich sieht. Dann nickt er dem plappernden Mann zu, verschwindet über die drei Stufen ins Freie, presst die Augen zusammen und atmet auf.

"Die Kenntnis des übelsten Verbrechens ist leichter zu ertragen als die Ungewissheit."

Warum verbringt man seinen Ruhestand mit Mordfällen? Mit Verzweiflung, Hundepisse, Blut? Nachfrage abends beim Griechen. Petermann erzählt bei Leber und Pommes, er habe sich als junger Mann bei der Polizei beworben, um dem Wehrdienst zu entgehen. "Ich habe schnell gemerkt, wie faszinierend der Mord, das Böse, die Gewalt sind." Der Schnauzbart verschwindet einen Moment lang hinter einer Papierserviette. "Zum Glück war ich immer auf der richtigen Seite."

Ob es ihn stört, dass er sich mit seiner Leidenschaft für den Beruf bei Kollegen nicht nur beliebt macht? Er seufzt. "Ich bin eben anders. Ich will auch gar nicht wie sie sein." Und, Ruhestand hin oder her: Seit ein Freund sein Kind durch ein Verbrechen verloren hatte, wisse er, wie schwer Ungewissheit für Angehörige sei. "Die Kenntnis des übelsten Verbrechens ist leichter zu ertragen als die Ungewissheit."

Am nächsten Tag sitzt er bei Maria Rimbach am Küchentisch, die den Mörder ihrer Tochter seit 20 Jahren sucht. Sie trägt kurz geschnittene, ergraute Locken und eine Bluse. Eine Wanduhr tickt. Petermann sagt in warmem Erklärton, dass die Ermittlung im Bordell ins Leere gelaufen sei. Der Fall dort habe mit der Tochter nichts zu tun. "Der Mörder dort war wohl einer, der Prostituierte oder Frauen hasst." Er sei chaotisch vorgegangen, habe seine Opfer wahrscheinlich gar nicht gekannt. Heike Rimbach aber, da sei er sicher, wurde von einem Bekannten getötet, erstickt, erstochen, erhängt. "Overkill", sagt Petermann. Maria Rimbach nickt.

"Wie machen wir weiter?", fragt sie. Er werde sich noch einmal bei Heikes Freunden umhören. Jedes Gespräch ein Schritt zur Wahrheit, vielleicht. Dann greift Petermann nach seiner Umhängetasche und zieht einen dicken Umschlag heraus.

"Ihr Buch?", fragt sie.

Er nickt. Sie solle es in Ruhe lesen, sagt er. Und nicht erschrecken, er habe alle Vermutungen zum Tod ihrer Tochter aufgeschrieben. Auch, dass er sie selbst und ihren Mann, Heikes Vater, zu den Verdächtigen gezählt habe. Maria Rimbach nickt.

Sie weiß alles über den Tod ihrer Tochter. Kennt jedes winzige, grausame Detail aus den Akten. Die Bilder vom Seziertisch sind quälend in ihren Kopf eingebrannt, sagt sie. Der zerbrechliche, zerbrochene Körper ihres Kindes auf einer weißen Papierbahn. Am meisten aber quält sie, dass sie zugleich nichts weiß. "Ich gebe keine Ruhe, bis feststeht, wer das getan hat", sagt sie und dreht den Umschlag zwischen ihren Händen. "Ich auch nicht", sagt Axel Petermann. Er lächelt, auch wenn er es sehr ernst meint.

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